Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung

Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung

 

 

 

von: Werner Vogd

Verlag Barbara Budrich , 2005

ISBN: 9783938094464

Sprache: Deutsch

269 Seiten, Download: 1396 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung



7. Organisationsforschung: Ärztliche Entscheidungsfindung im Krankenhaus (S.163)

Dieser Essay kreist um das Thema Behandlung komplexer medizinischer Fälle. Gemeinsames Merkmal dieser Fälle ist eine umfangreiche medizinische Problematik, die eine Entscheidung für oder gegen eine spezifische Therapie schwierig erscheinen lässt.

Oftmals gleichsam mit dem Rücken an der Wand stehend erscheinen den Ärzten die ins Auge gefassten Therapien fraglich, im Einzelfall gar außerordentlich riskant. Einfach nichts zu tun würde jedoch demgegenüber auch ein Risiko mit sich bringen. Für und Wider müssen abgewogen sowie die Verantwortlichkeiten festgelegt werden.

Nicht selten erzeugen solche Fälle auch eine Kaskade von Folgeproblemen – und diesbezüglichen Entscheidungsbedarf – organisatorischer bzw. administrativer Art, denn in ihrer Komplexität kann das ökonomische Primat des Akutkrankenhauses, rationell und effizient zu arbeiten, oft nicht mehr eingehalten werden.

Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie solche Fälle im Krankenhaus verhandelt und bearbeitet werden. Entscheiden unter Unsicherheit stellt nun keineswegs ein neues Thema innerhalb der Medizinsoziologie dar – man denke hier nur an die Arbeiten von Fox (1969) und Bursztajn et al. (1990).

Auch die professionssoziologischen Ansätze von Stichweh (1987) und Oevermann (1990) beziehen sich auf diese Problemlage, denn – so die Argumentation: Der Arzt konstituiere seine professionelle Autonomie gerade dadurch, dass zwischen Expertenwissen und handlungspraktischer Anwendung eine Lücke besteht, die nur durch eine klientelbezogene Interpretationsleistung zu schließen ist.

Die Arzt-Patient-Beziehung rückt in diesen Ansätzen mehr oder weniger in das Zentrum des professionellen Handelns. Für die ambulante, insbesondere die hausärztliche Praxis, mag diese Fokussierung zwar berechtigt sein.

Aktuelle Krankenhausstudien zeigen jedoch auf, dass der Patient (ebenso wie die Pflegekräfte) in den eigentlichen medizinischen Entscheidungsprozessen eher eine untergeordnete Rolle einnehmen (Hermann, 2004, Wettreck, 1999).

In den ärztlichen Diskurs- und Aushandlungsprozess wird der Patient in der Regel kaum unmittelbar mit einbezogen, sondern eher mittelbar in Form von Stereotypen thematisiert. Demgegenüber spielen die medizinischen Aspekte des Geschehens wie auch die vielfältigen organisatorischen Prozesse der hochgradig arbeitsteiligen Institution Krankenhaus eine zentrale Rolle in der ärztlichen Entscheidungsfindung.

Nur wenige neuere Studien fokussieren die letztere Dimensionen ärztlichen Handelns (siehe hierzu: Atkinson, 1995, Cicourel, 1990). Entsprechend möchten wir den Prozess betrachten, wie Entscheidungen im Krankenhaus sozial hergestellt werden.

Dabei sollen insbesondere die Organisation Krankenhaus und die in ihr verschachtelten gesellschaftlichen Kontexturen in den Blick genommen werden. Die Ausarbeitung geschieht im Folgenden paradigmatisch anhand eines Fallgeschehens, welches auf einer internistischen Station beobachtet wurde, dem zur komparativen Analyse ein Fall aus einer chirurgischen Abteilung gegenübergestellt wird.

Die vorgelegten Beispiele entstammen einem umfassenderen Forschungsprojekt, in dem auf der Basis von vier Feldaufenthalten in unterschiedlichen Kliniken die Dynamik ärztlicher Entscheidungsprozesse untersucht wurde.

Auch wenn sich die empirischen Realitäten im Einzelfall als überaus komplex zeigen und entsprechend auch in den Beobachtungsprotokollen die vielfältigsten Facetten aufscheinen, so kristallisiert sich dennoch auf allen untersuchten Stationen ein gemeinsames Leitproblem heraus: Die Entscheidungsdynamik wird in vielen Fällen durch einen Kon.ikt zwischen dem medizinischen Funktionsbezug und der ökonomisch-administrativen Rationalität geprägt.

Auf der einen Seite steht der ärztliche Wunsch, bestmöglich dem Wohle des Patienten zu dienen, diesen ausführlich zu untersuchen und ihm schließlich die bestmögliche Therapie anbieten zu können. Auf der anderen Seite steht die Organisation Krankenhaus mit ihren institutionellen Grenzen.

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