Handwörterbuch Sexueller Mißbrauch

Handwörterbuch Sexueller Mißbrauch

 

 

 

von: Dirk Bange, Wilhelm Körner

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2002

ISBN: 9783840911880

Sprache: Deutsch

795 Seiten, Download: 2765 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Handwörterbuch Sexueller Mißbrauch



Erinnerungen (S. 76-78)

Dirk Bange

Insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland, haben wieder entdeckte Erinnerungen von Erwachsenen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit für erregte öffentliche Diskussionen gesorgt. Sich falsch beschuldigt fühlende Eltern haben Gruppen wie die „False Memory Syndrome Foundation" gegründet. Ihr Ziel ist es, Eltern zu helfen, die von ihren erwachsenen Kindern des sexuellen Missbrauchs auf Grund von im Rahmen einer Therapie wieder gefundenen Erinnerungen beschuldigt wurden. Diese Gruppen werden argumentativ von prominenten Wissenschaftlern und Publizisten unterstützt.

Sie bewerten solche Erinnerungen entweder als Hirngespinste von verwirrten oder rachsüchtigen Frauen und Männern oder als Suggestionen durch übereifrige oder schlecht ausgebildet Therapeutinnen und Therapeuten. Als Ursachen für falsche Erinnerungen kritisieren sie zudem bestimmte Ratgeberliteratur für Opfer sexuellen Missbrauchs und reißerisch aufgemachte Medienberichte. Ihre Kritik beruht auf spektakulären Gerichtsverhandlungen und auf Ergebnissen von Laboruntersuchungen, die gezeigt haben, dass man Erinnerungen an traumatische Erfahrungen suggerieren bzw. Teile der Erinnerungen manipulieren kann (z. B. Wakefield & Underwager 1992; Tavris 1994; Loftus & Ketcham 1995; Lindsay & Read 1994; Yapko 1996).

Auf der anderen Seite stehen Forscher und Autoren, die wieder entdeckte Erinnerungen für weitgehend authentisch halten. Sie entgegnen der Kritik, dass man in Laboruntersuchungen traumatische Erfahrungen nicht nachstellen könne und deshalb die Ergebnisse nicht auf die Realität übertragbar seien. Außerdem bewiesen Untersuchungen, dass man zwar Details einer Erinnerung durch Suggestionen manipulieren kann, der Kern der Erinnerung davon aber relativ unberührt bleibt (z.B. Herman 1994; Terr 1995; Williams 1994a und b, 1995; Elliott 1997; Epstein & Bottoms 1998; Hopper 1999). Beide Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dadurch hat sich die Debatte um die wieder entdeckten Erinnerungen von einer wissenschaftlichen Kontroverse in einen politisch motivierten Schlagabtausch verwandelt, in dem jedes Forschungsergebnis scharf kritisiert und extrem kontrovers diskutiert wird. Eine Versachlichung dieser Diskussion ist im Sinne der Betroffenen dringend geboten.

Im Folgenden werden die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zu vier zentralen Fragestellungen referiert:

1. Wie häufig ist es, keine Erinnerungen an sexuellen Missbrauch zu haben?
2. Wie kommt es zu wieder entdeckten Erinnerungen und welche Rolle spielen Therapeutinnen und Therapeuten dabei?
3. Wie häufig sind Falschbeschuldigungen auf Grund wieder entdeckter Erinnerungen?
4. Welche Prozesse sind dafür verantwortlich, wenn sich ein Mensch nicht an den sexuellen Missbrauch erinnern kann?

Zur Häufigkeit fehlender Erinnerungen an sexuellen Missbrauch

Seit 1987 sind über 30 Untersuchungen zur Frage der Häufigkeit fehlender Erinnerungen an sexuellen Missbrauch durchgeführt worden – der Großteil davon in den USA. Die Studien zeigen unabhängig von der Art der Stichprobe und ihrer Methodik durchgängig, dass sich ein Teil der Betroffenen längere Zeit ihres Lebens nicht an den Missbrauch erinnern können.

Die Rate derer, die Fragen wie „Gab es eine Zeit in Ihrem Leben, in der Sie sich nicht an den Missbrauch erinnert haben" mit „ja" beantworten, schwankt dabei allerdings erheblich. In den Studien, die auf klinischen Stichproben beruhen, pendelt sie zwischen 19% und 64%. So fanden Judith Lewis Herman und Emily Schatzow (1987), dass sich von 53 Frauen aus einer Kurzzeittherapiegruppe für Inzestopfer 64% nicht immer an den sexuellen Missbrauch erinnern konnten. John Briere und Jon Conte (1993) untersuchten 450 Erwachsene in therapeutischer Behandlung. 59,3% von ihnen konnten sich in ihrem Leben zumindest phasenweise nicht an den sexuellen Missbrauch erinnern.

Relativ unbekannt ist, dass Elizabeth Loftus, die Verdrängung und wieder entdeckte Erinnerungen als Unsinn bezeichnet hat, selbst eine Untersuchung zu dieser Frage durchgeführt hat. Gemeinsam mit S. Polonsky und M. T. Fullilove hat sie 105 Frauen, die wegen Drogenabhängigkeit in Behandlung waren, untersucht. 54% der Frauen berichteten, sie seien als Kinder sexuell missbraucht worden. 19% dieser Frauen gaben an, dass sie sich zeitweise nicht an den Missbrauch erinnern konnten, die Erinnerung dann aber zurückgekehrt sei (Loftus, Polonsky & Fullilove 1994).

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