Kinderarmut und Kindergesundheit

Kinderarmut und Kindergesundheit

 

 

 

von: Raimund Geene / Carola Gold

Hogrefe AG, 2009

ISBN: 9783456946351

Sprache: Deutsch

177 Seiten, Download: 8509 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Kinderarmut und Kindergesundheit



5 Bürgerlich geprägtes Versorgungssystem (Seite 23)

Welche Unterstützung liefert das Versorgungssystem in der Phase der frühen Kindheit? Die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt werden zunächst von den Eltern aller sozialen Schichten wahrgenommen. Während Mittel- und Oberschichten die Ratschläge des Kinderarztes zumeist gut aufnehmen und umsetzen können, fühlen sich sozial Benachteiligte vielfach nicht verstanden und akzeptiert, die Tipps und Anweisungen sind mit ihrer Lebensrealität oft nicht vereinbar (Meurer &, Siegrist, 2005 sowie Wolf-Kühn &, Geene, in diesem Band).
Tatsächlich ist die Unterstützung junger Eltern anbieterseitig von einer vollkommen unüberschaubaren Flut von Botschaften und Informationsmaterial für junge Mütter gekennzeichnet. Die jeweiligen Hinweise betreffen Bewegung, Ernährung und Stillförderung, ergonomische Fragen, Sicherheitsfragen hinsichtlich Unfallprävention und plötzlichem Kindstod, Bekleidung, Impfen, Karies- und Vitamin D-Prophylaxe, Phänomene wie Schreibabys und Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS) und vieles mehr. Auch die Absender der Botschaften sind schwer einzuschätzen, vermischen sich doch gesundheitliche oder medizinische mit eher gewerblichen Interessen, wie sich am Beispiel der gesponserten „Starterpakete“ bei Entlassung aus der Entbindung mit Schnuller und Zufütternahrung exemplarisch zeigt. Wie diametral dies mit den WHO-Konzepten der Stillförderung kollidiert, braucht an dieser Stelle wohl nicht ausgeführt zu werden. Wie ist es zu erklären, dass das Gesundheitswesen Schwangeren und jungen Eltern derart diffus begegnet? Fehlt es an wissenschaftlicher Evidenz, die Flut der Verhaltensbotschaften zu klassifizieren und zu priorisieren? Oder mangelt es der Wissenschaft an Einfluss, ihre Erkenntnisse gegen gewerbliche Interessen durchzusetzen? Oder fehlt es vielleicht der gynäkologischen und pädiatrischen Praxis grundsätzlich an Bewusstsein über die vermittelten Ambivalenzen? Es ist zu befürchten, dass alle drei Fragen bejaht werden müssen.
Auch in der weiteren kinderärztlichen Karriere ihrer Kinder erleben Eltern ähnliche Verunsicherungen, wie die enormen regionalen Unterschiede in der Diagnostik des ADHS zeigen: Während in Mecklenburg-Vorpommern nur 0,4 % der Kinder zwischen sechs und 14 Jahren entsprechende Medikamente verschrieben bekommen, liegt die Behandlungshäufigkeit in der Region Würzburg bei den neun- bis unter zwölfjährigen Jungen bei 9,5 %, bei den zwölf- bis unter 15-jährigen Jungen in der Region Koblenz sogar bei 11,8 % (Glaeske &, Janhsen, 2002). Bundesweit werden rund 30 % der verordneten Methylphenidatmenge (Arzneistoff mit anregender Wirkung auf das Nervensystem) von nur 66 Ärzten rezeptiert – die weiteren 70 % werden von 4.008 Ärzten verschrieben (ebd.). Auch hier mangelt es an Evidenzen, an Leitlinien und einer entsprechenden Überprüfung, und vor allem an Bewusstsein über die sozialen Implikationen gesundheitlicher Hilfen.

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