Delir beim alten Menschen - Grundlagen - Diagnostik - Therapie - Prävention

Delir beim alten Menschen - Grundlagen - Diagnostik - Therapie - Prävention

 

 

 

von: Walter Hewer, Christine Thomas, Lutz Michael Drach

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170321656

Sprache: Deutsch

309 Seiten, Download: 5771 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Delir beim alten Menschen - Grundlagen - Diagnostik - Therapie - Prävention



3          Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren


 

 

 

 

Beim Delir handelt es sich um ein psychopathologisches Syndrom, das sich auf dem Boden einer Funktionsstörung des Gehirns manifestiert. Das heutige Konzept einer der Delirsymptomatik zugrunde liegenden hirnorganischen Schädigung wurde in seinen wesentlichen Aspekten von dem deutschen Neuropsychiater Karl Bonhoeffer formuliert (Bonhoeffer 1917) und nach dem Zweiten Weltkrieg von nordamerikanischen Autoren weiterentwickelt (Engel und Romano 1959; Lipowski 1989; Trzepacz 1996). Die zum Delir führende zerebrale Dysfunktion manifestiert sich in der Regel akut und tritt in Wechselwirkung mit altersassoziierten Hirnveränderungen einerseits und bestehenden Vorschädigungen andererseits, die bei alten Menschen sehr häufig in Verbindung mit demenziellen Prozessen und ihren Vorstufen bestehen (Hughes et al. 2012).

Die für die Entstehung eines Delirs bedeutsamen Einwirkungen (ätiologische Faktoren) können wie folgt unterschieden werden:

•  Eine bestimmte Erkrankung stellt die Ursache eines Delirs dar, d. h. es besteht ein direkter Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang, ohne dass begünstigende Faktoren vorliegen müssen (Beispiele: Delir infolge einer Enzephalitis bei einem bis dahin Gesunden, Urosepsis einer aktiven 70-Jährigen ohne chronische Erkrankungen). Diese Konstellation ist bei jüngeren Patienten die Regel, aber auch beim ansonsten gesunden Älteren können begünstigende Faktoren gering sein und so in den Hintergrund treten.

•  Eine oder mehrere Erkrankung/en ist/sind Auslöser für ein Delir, d. h. sie stellen eine notwendige, aber nicht unbedingt hinreichende Erklärung für die akut auftretende psychopathologische Symptomatik dar (Beispiel: Manifestation eines Delirs im Zusammenhang mit einer Bronchopneumonie bei einem 85-jährigen Patienten mit beginnender Demenz). In diesem Fall ist davon auszugehen, dass die Entwicklung des Delirs bei einem akuten Infekt der Lunge durch die Vorschädigung des Gehirns bei demenzieller Erkrankung wesentlich begünstigt wurde.

•  Vielfältige Erkrankungen und bestimmte andere Merkmale (z. B. Demenz, Niereninsuffizienz oder hohes Lebensalter) sind Risikofaktoren für ein Delir. Ihr Vorhandensein erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Delir entwickelt, wenn ursächliche oder auslösende Erkrankungen auf den Organismus einwirken ( Kap. 3.2).

In der Praxis ist eine strikte Unterscheidung und Gradierung der für die Entstehung eines Delirs bedeutsamen Einwirkungen im Sinne der oben definierten Kategorien meist nicht möglich. Vielmehr bewegen diese sich meist auf einem Kontinuum zwischen einem monokausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einerseits und dem Vorliegen mehrerer Auslöser in Verbindung mit multiplen Risikofaktoren bei einem multimorbiden Alterspatienten andererseits. Darauf wird bei der Besprechung des sog. Schwellenkonzepts nach Inouye nochmals eingegangen.

3.1       Ursachen und Auslöser


Walter Hewer, Christine Thomas


3.1.1     Entstehungsmechanismen – Pathophysiologie


Die in Kapitel 2 beschriebene Symptomatik kann aus klinischer Sicht als eine gemeinsame Endstrecke verschiedenartiger pathophysiologischer Mechanismen verstanden werden, die einzeln oder – bei älteren Patienten häufig – in Kombination zur Wirkung kommen (Wetterling 1994; Trzepacz 1996; Fischer und Assem-Hilger 2003; Hughes et al. 2012; Zaal und Sloter 2012; Maldonaldo 2013; Inouye et al. 2014b; Theuerkauf und Günther 2014; AGS/NIA Delirium Conference Writing Group 2015; Tab. 3.1). Die nachfolgend referierten Erkenntnisse zu den pathophysiologischen Mechanismen beruhen überwiegend auf klinischen Studien, teilweise aber auch auf Untersuchungen an Tiermodellen.

•  Reduktion des oxidativen Hirnstoffwechsels, verursacht z. B. durch Sauerstoffmangel (akute oder chronische Lungenerkrankungen, Anämien), Hypoglykämie oder Durchblutungsstörungen. Der reduzierte Stoffwechsel betrifft entweder bestimmte Bezirke des Gehirns (bei extra- und intrazerebralen Gefäßprozessen) oder das Organ als Ganzes (z. B. bei Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen). Die Durchblutungsstörungen können sowohl große als auch kleine Gefäße (Makro-/Mikrozirkulation) betreffen einschließlich einer als pathophysiologisch bedeutsam erachteten Endotheldysfunktion und der damit einhergehenden Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke.

•  Störungen des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalts, z. B. bei allgemeinem Flüssigkeitsmangel (Dehydratation/Exsikkose) oder Verschiebungen, die das Verhältnis von Wasser und osmotisch wirkenden Partikeln betreffen. In diesen Situationen sind sehr häufig pathologische Abweichungen des Serum-Natriums nachweisbar; dabei ist eine Hyponatriämie häufiger als eine Hypernatriämie. Die damit einhergehenden osmotischen Gradienten gehen – abhängig von der Schwere und Dynamik der zugrunde liegenden Störung – mit einer mehr oder minder ausgeprägten, mitunter lebensbedrohlichen Wasserverschiebung in das bzw. aus dem Hirngewebe einher.

•  Veränderungen des Neurotransmittergleichgewichts: Klinische und grundlagenwissenschaftliche Befunde belegen, dass ein Defizit an Acetylcholin ebenso wie eine erhöhte dopaminerge Aktivität delirogen wirken können (cholinerg-dopaminerge Dysbalance). So können verschiedenste Medikamente und andere Substanzen (pflanzliche Anticholinergika) ein anticholinerges Delir verursachen, welches unter einem cholinerg wirkenden Medikament (Physostigmin) reversibel ist. Bei verschiedenen klinischen Konstellationen, die mit einer erhöhten dopaminergen Aktivität einhergehen, können Delirien auftreten (z. B. unter Therapie mit Dopaminagonisten), während antidopaminerg wirkende Medikamente (Neuroleptika) die Symptomatik eines Delirs reduzieren können oder gar zu einer Remission führen.

•  Über GABA (Gamma-Aminobuttersäure) als Neurotransmitter vermittelte Effekte sind ebenfalls für die Delirentstehung von Bedeutung. Dies betrifft insbesondere Delirien infolge eines Entzugs von Alkohol und Benzodiazepinen. Weiterhin sind Störungen, die das melatonerge, serotonerge, noradrenerge, glutamaterge und andere Systeme betreffen, von pathophysiologischer Relevanz. Deren Zusammenspiel ist allerdings noch wenig verstanden.

•  Neuroendokrine Krankheitsmechanismen: In diesem Zusammenhang ist die stressbedingte – z. B. als Begleiterscheinung schwerer Erkrankungen auftretende – Dysfunktion der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde-Achse) zu nennen, die wesentlich durch eine erhöhte Sekretion von Cortisol gekennzeichnet ist. Ebenfalls kann die exogene Zufuhr von Corticosteroiden Delirien auslösen (Bhangle et al. 2013). Ferner wird eine Aktivierung des sympathikoadrenergen Systems als bedeutsam für die Delirentwicklung diskutiert.

•  Eine Aktivierung des Zytokinsystems (Interleukin-1, -2, -6, -8, TNF [Tumornekrosefaktor]-a, Interferon): Diese Mechanismen sind v. a. bei Infektionen von Bedeutung, u. a. in Verbindung mit einem »Systemischen Inflammatorischen Response-Syndrom« (SIRS). Es wird diskutiert, dass eine über Zytokine vermittelte Störung der Blut-Hirn-Schranke und Überaktivierung der Mikroglia mit dadurch hervorgerufener neuronaler Schädigung von Bedeutung sein könnte für eine Progression demenzieller Prozesse im Verlaufe eines Delirs (van Gool et al. 2010; Abb. 3.1). Damit ist ein pathogener Mechanismus beschrieben, der – neben mutmaßlich noch anderen Faktoren – erklären könnte, dass nach durchgemachtem Delir bei einem beträchtlichen Anteil betroffener älterer Patienten eine nicht vorbekannte kognitive Beeinträchtigung bestehen bleibt, bzw. eine signifikante Verschlechterung einer zuvor bereits feststellbaren Einschränkung eintritt. Die Bedeutung entzündlicher Prozesse im zentralen Nervensystem für die Pathogenese von Delirien wird durch die Befunde entsprechender Parameter im Liquor cerebrospinalis unterstützt (Cape et al. 2014).

•  Immunologische Prozesse, die zu einer systemischen oder auf das Gehirn begrenzten Entzündungsreaktion führen. Hier sind insbesondere die Autoimmun-Prozesse zu nennen (Hashimoto-Enzephalopathie und weitere, zum Teil paraneoplastisch auftretende, immunvermittelte Störungen der globalen Hirnfunktion, früher oft als limbische Enzephalitiden zusammengefasst).

•  Genetische Faktoren: Es liegen neuere Erkenntnisse vor, wonach das Risiko, ein Delir zu entwickeln, durch genetische...

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