Irre viel zu tun ... - Aufschieberitis, Prüfungsangst & Co. - Krisen im Studium bewältigen

Irre viel zu tun ... - Aufschieberitis, Prüfungsangst & Co. - Krisen im Studium bewältigen

 

 

 

von: Petra Holler

Beltz, 2014

ISBN: 9783621281812

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 12318 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Irre viel zu tun ... - Aufschieberitis, Prüfungsangst & Co. - Krisen im Studium bewältigen



Einführung


Dieses Buch handelt von Situationen, in denen Studentinnen und Studenten zu mir kamen, um mit mir über sich zu sprechen und mich in der einen oder anderen Form um Hilfe und Rat zu bitten. Sie taten dies im Rahmen meiner Tätigkeit als Psychologin und Leiterin einer psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende. Manche suchten das Gespräch, weil sie in einer privaten schwierigen Situation gefangen waren, die sie als sehr leidvoll und quälend erlebten. Das waren schmerzliche Trennungserfahrungen, Beziehungsprobleme, Schwierigkeiten, einen Partner zu finden oder familiäre Konflikte. Nicht selten auch der Tod eines Elternteils, der plötzlich und unvorhergesehen über sie hereinbrach und sie mit der zutiefst schmerzlichen Erkenntnis konfrontierte, dass sie wichtige innere und äußere Entwicklungsschritte, für die sie den Vater oder die Mutter noch eine Weile gebraucht hätten, nun ohne diesen wichtigen Menschen würden schaffen müssen.
Andere kamen, weil sie mit sich selbst im Unreinen waren. Es war sozusagen die Beziehung zu sich selbst, die nicht geklärt war. Sie fühlten sich orientierungslos oder wussten nicht, ob sie mit ihrem Studium auf dem richtigen Weg waren. Sie hatten keinerlei konkrete Phantasien über ihre Zukunft, ob privat oder beruflich. Manche machten aus dieser Not eine Tugend und ließen sich treiben wie ein Blatt im Wind. Mal hierhin, mal dorthin, immer auf der Suche nach Neuem und Aufregendem. Und immer in der Hoffnung, irgendwann das »Absolute« zu finden. Allzu oft erfüllte sich dieser Wunschtraum nicht und der Aufprall auf dem Boden der Realität war hart und überaus schmerzlich.
Wieder andere wussten sehr genau, was sie wollten und wo sie hinwollten, errichteten aber aufgrund ihrer immensen Leistungsansprüche, die sie an sich (und andere) stellten, eine wahre Diktatur des Perfektionismus und der Fehlerlosigkeit, an der sie nur scheitern konnten.
Die Angst vor Misserfolgen und Fehlern und die gefürchtete Beschämung vor sich selbst und anderen waren für viele Studenten Anlass, in die psychologische Beratung zu kommen. Sie litten entweder unter klassischen Prüfungsängsten, die ihr Leben derart beherrschten, dass sie nicht mehr zu Prüfungen antraten und so ihr Studium aufs Spiel setzten. Oder aber ihre allgemeinen Versagensängste waren so groß, dass sie ihnen das Leben vergällten und sie an nichts mehr Freude hatten. Ihr Selbstwert schien einzig und allein abhängig vom Erfolg im Studium, dem sie alles meinten unterordnen zu müssen.
Selbstwertkrisen sind typische Krisen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Es dauert einfach eine Weile, bis wir in Sachen Selbstbewusstsein fest im Sattel sitzen und uns durch Kommentare von anderen (aber auch durch unseren inneren strengen Zensor) nicht mehr so rasch verunsichern lassen. Hinter vielen Symptomen verbirgt sich Selbstunsicherheit, die so ausgeprägt sein kann, dass man Kontakten mit anderen immer mehr aus dem Weg geht und Beziehungen nur noch virtuell oder in der Phantasie lebt.
Manche Studenten trieb die Angst vor der eigenen Courage in die Beratung. Sie hatten mit der Zeit gemerkt, dass sie mit einem Studium generell oder mit ihrem Fach auf dem falschen Weg waren. Sie hatten auch Phantasien und Vorstellungen, was sie lieber machen würden, trauten sich aber nicht, diesen nachzugeben. Oft hatten sie schon sehr viel Zeit, Geld und Energie in ihr Studium investiert. Manche hatten Angst vor der Reaktion der Eltern, von denen sie noch finanziell abhängig waren. Andere waren verunsichert, weil nun »alles anders« war. Die Tatsache, dass man im Leben auch falsche Entscheidungen trifft, dass man sich in Sackgassen manövriert und Umwege machen muss, um wieder das Gefühl zu haben, das Richtige zu tun, sowie die Erkenntnis, dass dies nur allzu menschlich und erlaubt ist, war für die betreffenden Studenten oft eine große Erleichterung. Und Ansporn, sich zu trauen, den eigenen Weg zu suchen und zu verfolgen.
Die Suche nach dem eigenen Weg und einem gelingenden Leben ist die zentrale Aufgabe der Spät- und Postadoleszenz, der Entwicklungsphase, in die die Ablösung von zuhause und das Studium fallen. Man bezeichnet diese Phase auch als »Moratorium«, eine Art »Aufschub«, die eine Gesellschaft ihrer jungen Generation gewährt, um wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg der Persönlichkeitsreifung zu gehen und sich auf die endgültige Verantwortungsübernahme für ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten. Das heißt, um sich auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln. Dafür bedarf es ausreichender Spiel- und Entwicklungsräume. Selbstentwicklung, Persönlichkeitsreifung, die Auseinandersetzung mit sich selbst, wie man leben will und was einem wichtig ist – also im weitesten Sinne Individuation und Identitätsentwicklung – lassen sich nicht auf dem Reißbrett entwerfen. Die Entwicklung unserer Persönlichkeit ist nichts Lineares. Sie ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit uns selbst, mit der Welt sowie mit Grenzen, an die wir immer wieder stoßen und an denen wir uns abarbeiten.
Persönlichkeitsentwicklung impliziert also nicht nur die »richtige Studienfachwahl« und »optimales Lernen«, sondern auch Beziehungsfähigkeit, d. h. Reifung und Entwicklung in emotionaler und psychischer Hinsicht.
Nun zeigt sich, dass neben Identitätskrisen und Ablösungsschwierigkeiten, von jeher zentrale Themen der psychologischen Beratung für Studierende, seit einiger Zeit vor allem die sogenannten »studienbedingten Probleme« – Arbeits- und Lernstörungen, Prüfungsängste, Aufschiebeverhalten (Prokrastination) – sehr viel stärker in den Vordergrund rücken. In vielen Fällen kumulieren diese Schwierigkeiten in allgemeinen Überforderungssyndromen der Studierenden. Zeitdruck und Leistungsdruck werden als allgegenwärtig erlebt. Tatsächlich hat sich der Studienalltag an den deutschen Universitäten und Hochschulen durch die Bologna-Reform, die 2012 abgeschlossen wurde, grundlegend verändert. Diese tiefgreifende Strukturreform hat sich auf Entwicklungs- und Spielräume im Studium nachhaltig ausgewirkt. Es ist nicht mehr die Rede von Persönlichkeitsentwicklung mit all ihren Hürden und Schwierigkeiten, sondern von soft skills oder social skills, also spezifischen Fertigkeiten und Kompetenzen, die in Workshops angeboten werden. Allen gemeinsam ist der Optimierungsgedanke im Sinne einer besseren Anpassungsfähigkeit.
Dem stelle ich eindeutig den Entwicklungsgedanken an die Seite. Keine der Schwierigkeiten, die in diesem Buch behandelt werden, entsteht aus dem Nichts. Sie alle haben eine auslösende Problematik, auch wenn diese nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sein mag, und sie sind eingebettet in den Lebensalltag und in die Biographie des Betreffenden. Hintergrund ist immer die entwicklungspsychologische Aufgabe der Ablösung, Individuation und Identitätsentwicklung, die in die Zeit des Studiums und des Studienabschlusses fällt. Diese Schwellensituationen mit ihren spezifischen Anforderungen sind Teil des Lebens. Sie gehen mit körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsschritten einher und implizieren die Übernahme von Verantwortung, von neuen Rollen und Funktionen für die Gemeinschaft. Und sie konfrontieren mit der Notwendigkeit, sich von Altbekanntem und Vertrautem zu lösen.
Der starke Drang nach Optimierung, die Vorstellung, durch Leistung alles erreichen zu können, der Druck, auf Schwierigkeiten sofort mit konkreter Handlung reagieren zu müssen, um sie schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen, lassen dies oft vergessen. Entwicklung und Persönlichkeitsreifung können nicht unter Zeitdruck stattfinden. So wie wirkliche Könnerschaft, das Markenzeichen von Elite und Exzellenz, nicht im Durchlauferhitzer heranreifen kann. Aus diesem Grund liegt in vielen Fällen die Problemlösung darin, als erstes Druck aus der Situation zu nehmen, um nicht in kopfloses Agieren zu verfallen.
Viele der Symptome, von denen im vorliegenden Buch die Rede ist, sind eine Folge der Ängste, die durch anstehende Entwicklungsschritte ausgelöst werden. Aus diesem Grund habe ich das Kapitel über die zentralen entwicklungspsychologischen Aspekte der Individuations- und Ablösungsphase an den Anfang gestellt. Sie sind die Grundlage, auf der sich viele Schwierigkeiten verstehen lassen.
Verstehen ist das eine. Ein konstruktiver Umgang mit Schwierigkeiten das andere. Die Chronifizierung und Verselbstständigung mancher Probleme, die sich auf den gesamten Lebensalltag auswirken – wie beispielsweise bei schweren Prüfungsängsten – machen es manchmal erforderlich, rasch konkrete therapeutische Hilfe einzuleiten. In anderen Fällen kann man sich mit einzelnen Tipps und Handlungsanleitungen behelfen, um fürs Erste für Erleichterung zu sorgen.
Ein Ratgeber soll aufklären und Hilfestellung leisten in Situationen, die schwierig, verfahren oder gar unlösbar erscheinen. Er soll ermutigen, Angst nehmen und helfen, Ressourcen und Fähigkeiten zu nutzen, die ansonsten brach liegen würden.
Dabei bin ich mir eines Dilemmas sehr wohl bewusst. Tipps und gute Ratschläge von Experten werden oft erbeten, aber genauso oft nicht beherzigt. Das liegt weniger daran, dass die Empfehlungen immer unpassend oder nicht sinnvoll wären. Vielmehr hängt es damit zusammen, dass wir uns in schwierigen Situationen zwar die Unterstützung anderer Menschen wünschen, sie im nächsten Moment aber dann doch als Einmischung erleben. Wir wollen es lieber selbst machen und alleine schaffen. Auch darin spiegelt sich eine bemerkenswerte menschliche Grundkonstante wider.
Wir sind oft ambivalente Wesen. Das heißt, wir wollen oft das eine, tun aber das andere. Wir rennen sehenden Auges in unser Unglück, obwohl Außenstehende und Freunde uns...

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