Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

 

 

 

von: Marianne Springer-Kremser, Alfred Springer

Braumüller Verlag, 2013

ISBN: 9783991000891

Sprache: Deutsch

312 Seiten, Download: 1302 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Depressionsfalle



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Kranke Gefühle –
Depression als
Krankheitsgeschehen


Einteilung der Depressionen – früher und heute

Im Gesamtspektrum der psychischen Störungen und Erkrankungen nimmt die Depression eine einzigartige Stellung ein, denn ihre Symptome sind universell und finden sich bei verschiedenartigen psychiatrischen Krankheitsbildern in unterschiedlicher Ausprägung und in unterschiedlichem Schweregrad. Daher ist die Diagnose einer depressiven Erkrankung manchmal nicht leicht zu stellen. Erschwert wird die Diagnose prinzipiell dadurch, dass in der Psychiatrie die Definition von psychischer Krankheit uneinheitlich und von verschiedenen Strömungen innerhalb der psychiatrischen Wissenschaft und Lehre sowie zusätzlich von der kulturellen Bewertung psychischer Phänomene beeinflusst ist.

Insofern ist das Bestreben, Regeln für eine allgemeingültige kultur- und schulunabhängige psychiatrische Diagnostik zu schaffen, zu begrüßen. Allerdings ist dieses Vorhaben bisher mit den verfügbaren diagnostischen Leitlinien in den psychiatrischen Diagnosemanualen DSM und ICD nicht gelungen. Vielmehr spiegeln auch diese Richtlinien Fraktionskämpfe innerhalb der Psychiatrie wider und haben insgesamt durch ihre „kategoriale Ausrichtung“ – die von Kritikern als „Kochbuchmentalität“ bezeichnet wird – zu einer Verarmung der diagnostischen Kunst geführt.

Früher unterschied man zwischen reaktiven, neurotischen, körperlich begründbaren und Erschöpfungsdepressionen. Der Kern, gleichsam der „klassische Typ“ der Depressionen, war die endogene Depression, eine vor allem biologisch begründbare Schwermut mit charakteristischem Krankheitsverlauf und gewissen Symptomschwerpunkten. In den neuen Klassifikationen tauchten neue Begriffe auf: Im ICD werden depressive Episoden, rezidivierende, anhaltende und bipolare affektive Störungen voneinander abgegrenzt, im DSM-System „Major Depression“, Dysthymie und bipolare Störungen.

In den neuen Systemen sind aber auch die früher grundlegenden Unterscheidungen verwischt worden. Das Verständnis, das aus den diagnostischen Instrumentarien hervortritt, hat die Forschung erleichtert und das internationale, kulturübergreifende Verständnis ermöglicht, gleichzeitig aber auch der Entwicklung einer „sprachlosen“ Psychiatrie den Weg gebahnt, die sich auf Fragebögen und die Erfassung von vorgegebenen diagnostischen Merkmalen reduziert und dabei selbst vernachlässigt, die Symptome nach ihrem Schweregrad zu ordnen.

Als wir in den 60er Jahren unsere Ausbildung in Psychiatrie absolvierten, wurde uns vermittelt, dass die klinische Depression eine Gemütskrankheit sei, die in verschiedenen Erscheinungsbildern auftritt. Man lernte, entsprechend der vorhin beschriebenen Lehrmeinung, zwischen „psychogenen“ (rein seelisch ausgelösten) Depressionen und „somatogenen“ (körperlich begründbaren) Depressionen zu unterscheiden.

Als wichtigstes Problem galt in der Ausbildung der „klassische Typ“ der Depressionen, der durch Jahrhunderte hindurch als Melancholie bekannt war und später als endogene Depression bezeichnet wurde. Darunter verstand man eine biologisch begründbare Schwermut mit einem charakteristischen Krankheitsverlauf, bestimmten Auslösern und mehr oder minder typischen symptomatischen Schwerpunkten. Besondere Aufmerksamkeit galt in dieser Zeit auch der „larvierten Depression“, die mit zunehmender Häufigkeit zu beobachten war und neue Anforderungen an das diagnostische Geschick stellte.

Die Grundzüge der Depression

Allgemein wurde und wird unter der psychiatrischen Diagnose „Depression“ eine bedrückte, qualvoll erlittene, von Unlust begleitete und von Angst gezeichnete Befindlichkeit verstanden. Diese führt bei den Betroffenen zum Erleben einer Zeitverlangsamung oder des Zeitstillstands, zur Hemmung der Erlebens- und Erkennungsfunktionen, zu einer schmerzlich erfahrenen Behinderung jeglichen Fühlens und Mitfühlens – Depression wurde auch als Krankheit an der Liebesfähigkeit bezeichnet –, zu einem Versiegen oder zu einer quälenden ziellosen Aktivierung von Energie, zu einem verfremdeten Versagen jeglicher Energie oder zu einer heillos erlebten ungezielten Agitation. Dementsprechend konnte vor 25 Jahren Raymond Battegay, ein erfahrener Kliniker, als krankhafte Form einer negativen Gemütslage dieses Bild beschreiben, das einem Erscheinungsbild entspricht, das in alter psychiatrischer Literatur als „Melancholie“ beschrieben wurde.

Besonders quälend sind in psychischer Hinsicht ein massiver Einbruch des Selbstwertgefühls und ein heftiges Schulderleben („ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht und schuld bin ich auch noch an allem selber“); diese Symptome können in schweren Fällen in ein psychotisches Geschehen münden, das durch zunehmenden Realitätsverlust, Wahnbildung und Halluzinationen charakterisiert ist. Zusätzlich kompliziert wird dieses seelische Zustandsbild von körperlichen Begleiterscheinungen:

• Störungen des Biorhythmus

• Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen und Früherwachen mit einem „Berg auf der Brust“ und Panik vor dem kommenden Tag)

• Stimmungstief am Morgen mit abendlicher Aufhellung („Morgengrauen“, „morgendliches Pessimum“)

• Herzrhythmusstörungen, Appetitstörungen, Verdauungsstörungen (meist Verstopfung), Sekretionsstörungen (trockener Mund, „tränenloses Weinen“), Störungen des sexuellen Interesses und der sexuellen Funktion

Eine endogene oder auf anderer Ursache aufbauende, hochgradige, schwere Depression war also an einigen Merkmalen zu erkennen, die eine mehr oder minder eindeutige Zuordnung ermöglichten. Der Psychiater und Psychoanalytiker Karl Landauer hat bereits 1939 im Psychoanalytischen Volksbuch das paradigmatische Bild einer klinischen Depression entworfen. Er vermerkte, dass die Bezeichnung „Niedergedrücktheit“ die körperliche und seelische Haltung des Kranken gut beschreibt. Die wesentliche Eigentümlichkeit ist der Rückzug aus der Umwelt, der Verlust jeglichen tieferen Interesses. Die Umwelt – mitsamt dem an ihr hängenden Körper – wird als liebesleer und schattenhaft wahrgenommen. Sie ist nicht mehr erlebenswert. Der Kranke hat sich „eingestülpt“. Als ausgeprägteste Form dieses Rückzugs von der Welt kann der Schlaf gelten. Tatsächlich gibt es viele Menschen, die ihren Schmerz „auszuschlafen“ versuchen, und manche Depressionen verlaufen unter dem Bild eines Dauerschlafs.

Wir wollen Landauers zeitlose Darstellung in extenso übernehmen: „Da erwacht eines Morgens der Mensch, fühlt sich müde, traurig. Jede Bewegung ist ihm leid. Er will kaum die Augen öffnen. Sie brennen ihn und scheuen das Licht; es blendet ihn. Er kann kaum auf Fragen antworten; sie belästigen ihn; er spricht leise, brummt etwas vor sich hin. Tränen kommen ihm; dabei weiß er kaum, dass er weint, nicht warum er weint. Er bringt keinen Bissen hinunter. Die Kehle ist ihm wie zugeschnürt. Ein fader Geschmack, ein klebriges Gefühl liegt auf der Zunge. Oft stößt es ihm auf, nach faulen Eiern, geschmacklos. Manchmal kommen auch Speisen von gestern herauf, faulig oder säuerlich schmeckend. Zwingt man den Kranken zum Essen, so liegt ihm alles schwer im Magen, weil wenig Speichel und Magensaft gebildet wird. Es würgt ihn, er erbricht. Dabei reizt der klebrige Geschmack im Munde zum ständigen Schlucken, und so kommt oft viel Luft in Magen und Därme, was Anlass zu viel körperlichen Beschwerden und zu zahlreichen seelischen Reaktionen gibt. Der Stuhl ist krampfhaft angehalten, oft auch der Urin; sie verursachen krampfhafte Schmerzen im Leib und ziehende im Kreuz. Winde quälen ihn, oft solche ohne Geruch. Manchmal kommt es zu Durchfällen, da die Speisen infolge des fehlenden Magensaftes sich zersetzen, oft im jähen Wechsel mit Verstopfung. Auch können Schmerzen in der Gallenblase bestehen. Neben dem Weinen oder auch nur einer Rötung der Augen tritt Nasenkatarrh mit oft gehäuftem Niesreiz, Brustkatarrh mit Husten und Giemen auf. Dies im Zusammenhang mit Schweiß, Schwächegefühl und Gewichtsverlust legt oft die Vermutung einer Tuberkulose nahe, löst sie auch manchmal aus. Die Bewegungsarmut kann sich zur Bewegungslosigkeit steigern: Stundenlang sitzt oder liegt der Kranke zusammengekauert da. Mienen- und Gebärdenspiel erlöschen. Das Gesicht ist zur leeren Maske erstarrt. Oft stieren einen die weit aufgerissenen Augen ohne Lidschlag wie geistesabwesend an. Beim Gehen hängen die Arme wie tot herab. Die Füße kleben am Boden.

Leblos wie die äußere Erscheinung sieht es auch im Inneren des Menschen aus: selbst die Trauer ist erloschen. Keine oder nur spärliche Gedanken sind da, die monoton sich immer wieder aufdrängen; oft ist es die Erinnerung an irgendeine Kleinigkeit, ja Kleinlichkeiten,...

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