Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
von: Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer
Vandenhoeck & Ruprecht, 2003
ISBN: 9783525456590
Sprache: Deutsch
335 Seiten, Download: 2344 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
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II. Theorie (S. 50-51)
2. Vom Suchen, (Er)finden und Nutzen theoretischer Grundlagen
2.1. Das Wörtchen »systemisch« – Ein projektiver Test?
Das Wörtchen »systemisch« ist mittlerweile zu so etwas wie einem »projektiven Test« psychosozialer Professionen geworden: Alle führen es im Munde und meist tun zwei, die darüber reden, als meinten sie damit das gleiche. Bei genauem Hinhören zeigt sich aber oft eine babylonische Bedeutungsvielfalt des Begriffs. Die sprachliche Nähe zu »systematisch« läßt manche hoffen, systemisches Denken könne Ordnung und Struktur in das Chaos menschlicher Beziehungen bringen. Andere versprechen sich davon vor allem eine ganzheitliche Blickrichtung, Beschreibungen, wie alles mit allem vernetzt ist. Es sind auch nicht wenige, die fürchten, systemische Ansätze seien vor allem technokratisch, eine Art Autoreparaturwerkstatt für menschliche Beziehungen. Doch genauso viele freuen sich über den jetzt endlich »wissenschaftlich « erbrachten Nachweis (und das dazugehörige Fremdwort), daß »instruktive Interaktion« in lebende, selbstorganisierende Systeme unmöglich sei. Auf ganz andere Weise sind lösungsorientierte Pragmatiker von der Vorstellung angetan, sich nicht mehr mit der Analyse von Problemen aufhalten zu müssen, sondern gleich zu deren Lösung schreiten zu können.
Theorie-Anarchisten bejubeln bereits das »Ende der großen Entwürfe« (Fischer et al. 1992), während andere sich von der Systemtheorie nach wie vor eine Universaltheorie versprechen, die für alle Phänomenebenen von der Zelle bis zur Gesellschaft eine einheitliche transdisziplinäre Theoriesprache bereithält. Das Problem ist: Sie haben alle mehr oder weniger recht, denn in allen Aussagen steckt ein Teil, der zumindest partiell auf die System- bestimmen? Welcher Beobachter könnte je im Besitz einer Norm sein, die nicht ihrerseits auf eine soziale Übereinkunft in einem sozialen System bezogen wäre? Langsam verschob sich die Bedeutung des Begriffs »systemisch«, ein Verständnis »jenseits von Homöostase« (Dell 1982) entstand, für die Familientherapie bedeutete das auch eine Hinterfragung ihrer selbst: »Das Familiensystem ist nur eine Idee, die uns alle vom Wege abgebracht hat. Es ist besser, das Konzept des Familiensystems völlig beiseite zu lassen und über die Behandlungseinheit als Bedeutungeinheit zu reflektieren« (Boscolo et al. 1988).
Dies paßte zu der Entwicklung in anderen Feldern. In der Chemie entdeckte Prigogine, wie in chemischen Prozessen scheinbar »wie von selbst« neue Ordnungen, die »dissipativen Strukturen« (vgl. S. 63), entstanden. In der Physik wurden mit der Synergetik (Haken 1984) und weitergehend mit der Chaostheorie (Gleick 1990, Kriz 1992) ähnliche Phänomene beschrieben: Systeme können unter bestimmten Randbedingungen durchaus aus sich heraus, »selbstorganisiert«, neue Strukturen entwickeln, sich verändern und nicht nur einmal gefundene Strukturen stabilisieren. Damit wurde die Homöostase als Zentralbegriff der Systemtheorie abgelöst. Jetzt interessierte nicht mehr so sehr das Gleichgewicht, als vielmehr die Veränderung in Systemen, die (im Detail) unvorhersehbar, nicht lokal planbar und oft irreversibel sich von einem zunächst scheinbar stabilen Zustand in neue, oft überraschende Formen hineinentwickelt (man spricht hier dann von »Phasenübergang « vom griechischen »phasis« = Erscheinungsform). »Ordnung durch Fluktuation« wurde zum Schlüsselwort (Jantsch 1982, Dell u. Goolishian 1981). Die Formulierung eines »Zweiten Gesetzes der Systeme«, nach dem »die Dinge immer geordneter werden, wenn man sie sich selbst überläßt« (Makridakis nach Dell u. Goolishian 1981, S. 110), kennzeichnet diese Veränderung der Sichtweise. Besonders nachhaltig beeinflußten Anfang der achtziger Jahre die erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Autopoiese (Selbstorganisation) lebender Systeme die Perspektiven der Systemtheoretiker (Maturana u. Varela 1987, Fischer 1991). Der Fokus verschob sich mehr und mehr auf die innere, autonome Selbstorganisationslogik lebender Systeme, auf ihre operationale Abgeschlossenheit und damit auch auf die Grenzen externer Einflußnahme. Die Umwelt erscheint nun nicht mehr als interventionsmächtige Planungsinstanz.