Handwörterbuch Philosophie

Handwörterbuch Philosophie

 

 

 

von: Wulff D. Rehfus (Hrsg.)

Vandenhoeck & Ruprecht, 2003

ISBN: 9783825282080

Sprache: Deutsch

737 Seiten, Download: 4764 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Handwörterbuch Philosophie



Deutscher Idealismus (S. 23-24)

Die Jahreszahlen 1781 und 1831 begrenzen äußerlich jenen Zeitraum, den man deutschen Idealismus nennt. 1781 ist Kants Kritik der reinen Vernunft in erster Auflage erschienen. 1831, fünfzig Jahre später, ist Hegel in Berlin plötzlich und unerwartet als Opfer einer vorbeiziehenden Cholera-Epidemie gestorben. Die Jahre zwischen 1781 und 1831 gelten zu Recht als eine der außergewöhnlichsten Epochen in der gesamten uns bekannten Philosophiegeschichte. In hohem Maße erstaunlich ist jedenfalls die Fülle der sich abwechselnden Autoren und Systementwürfe, die Intensität der philosophischen Gedankenbemühung und der hohe Anspruch, auf einer metaphysischen Grundlage, die dem Selbstverständnis der modernen Welt soll standhalten können, denkend auf den Begriff zu bringen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Dass Kant mit seinem Werk einen der wichtigsten Einschnitte in der modernen Philosophie und Geistesgeschichte darstellt, stand seiner eigenen Zeit und auch ihm selbst deutlich vor Augen. Kant wollte die gesamte bisherige Philosophie durch eine neue kritische Methode auf eine bislang unbekannte sichere Grundlage stellen. Dabei hatte er kritisch vor allem die einander widerstreitenden metaphysischen Systeme des Rationalismus und der Schulphilosophie des 18. Jhs., der Schule von Wolff und Baumgarten, vor Augen.

Gegen die ausufernden und offenkundig unhaltbaren Ansprüche der dogmatischen Metaphysik wollte Kant eine Selbstprüfung der menschlichen Vernunft in Gang setzen, die über Ausmaß und Grenze der menschenmöglichen Erkenntnis sicheren Aufschluss geben können sollte. Genau dies versucht die Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Aufl. 1787). Auf der Grundlage der Vernunftkritik sollte Kant zufolge die Metaphysik erneut, diesmal aber wissenschaftlich haltbar und abgesichert systematisch aufgebaut werden. Niemand nach Kant konnte daher in dem Versuch, Philosophie oder Metaphysik zu betreiben, in die als unhaltbar erwiesenen Behauptungen der Zeit vor Kant zur rückfallen. Gerade dies macht das kritische Unternehmen des »Alleszermalmers« Kant, wie ihn Moses Mendelssohn genannt hat, zu einem Einschnitt. Kants kritische Philosophie zeigt, dass alle Erkenntnis, die objektiv gültig genannt werden kann, bestimmten subjektiven Erkenntnisbedingungen unterliegt.

Die Gegenstände unserer Welt sind ihrem ontologischen Status nach wirklich und existieren unabhängig von uns; sie sind aber zugleich ihrer Erkennbarkeit nach ideell, also bewusstseinsabhängig, insofern wir sie nur nach den formalen Bedingungen unserer Erkenntnisfähigkeit überhaupt erkennen können. Dies ist der Inhalt von Kants berühmter kopernikanischer Wende in der Erkenntnistheorie, für die er auch den Namen »transzendentaler Idealismus« gewählt hat. Der folgenreiche Kern dieses erkenntnistheoretischen Idealismus ist die Einsicht, dass wir die Gegenstände unabhängig von unseren subjektiven Bedingungen, also so, wie sie hypothetischer Weise »an sich selbst betrachtet« sein mögen, gar nicht erkennen können. Stattdessen richten sich die Gegenstände unserer Erfahrung nach genau denjenigen Gesetzmäßigkeiten, unter denen wir allein Erfahrung haben können. Kant folgert daraus, dass der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt. Deshalb kann sie sicherer Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaft sein.

In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant den Ideen der Vernunft einen nicht legitimen konstitutiven Charakter für die Erkenntnis ab und ordnet ihnen einen legitimen regulativen Charakter zu. Das heißt: Durch die Ideen der Vernunft erkennen wir nichts, weil ihnen kein Gegenstand der Erfahrung entspricht; die Ideen vermehren nicht die Welt unserer Erfahrung. Dennoch nutzt die Vernunft ihre Ideen, um die Ansammlung der empirischen Einzelerkenntnisse in einer Gesamtperspektive zu ordnen. So bezeichnet etwa die Vernunftidee vom Weltganzen aller erfahrbaren Gegenstände selbst keinen anschaubaren Gegenstand; sie stellt aber einen perspektivischen Einheitsrahmen dar, damit unsere Erkenntnis in der Unendlichkeit der faktischen Einzelerkenntnisse nicht den Verstand zu verlieren braucht. Die dogmatische Metaphysik aber hatte Kant zufolge die Ideen mit Erfahrungsunabhängigen Gegenständen identifiziert. Die dogmatisch-metaphysische Rede von Gott, Welt, Freiheit und Seele ist aber sinnlos, weil sie von etwas handelt, das nie Gegenstand unserer Erkenntnis werden kann, das also für uns im strengen Sinne keine Existenz hat. Damit erreicht Kant die gesuchte kritische Grenzziehung.

Die erkenntniskritischen Überlegungen Kants machen demnach die dem Menschen zugängliche Objektivität von den Bedingungen der Subjektivität abhängig. Damit wird aber auch das Problem prominent, was unter Subjekt und Subjektivität überhaupt zu verstehen ist. In der transzendentalen Deduktion der Kategorien hat Kant die objektive Gültigkeit der Erkenntnisurteile auf eine so genannte »transzendentale Apperzeption« zurückgeführt. Damit ist eine grundlegende Handlung des Subjekts gemeint, die darin besteht, sich aller ihm präsenten Bewusstseinsinhalte prinzipiell als seiner eigenen ausdrücklich bewusst zu werden. Kant hat diese Handlung sogar den »höchsten Punkt« der Transzendentalphilosophie genannt. Die nachfolgenden Idealisten haben darin eine der tiefsten, aber auch dunkelsten Auskünfte Kants gesehen und genau an diesem Punkt mit ihren alternativen Systementwürfen begonnen. Das Problem der Subjektivität und die Frage, wie Subjekte von sich selbst Bewusstsein haben können, sind auf diese Weise in das Zentrum der Philosophie um 1800 gerückt.

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