Musikpsychologie - Populäre Musik

Musikpsychologie - Populäre Musik

 

 

 

von: Wolfgang Auhagen, Claudia Bullerjahn, Holger Höge

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840924989

Sprache: Deutsch

233 Seiten, Download: 2193 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Musikpsychologie - Populäre Musik



In den Spotlights und Nahaufnahmen des Jahrbuchs spiegelt sich stattdessen la Motte-Habers großes Interesse für die zeitgenössische Avantgarde wider, die nur leider „an die Peripherie des Musiklebens gedrängt wurde“, während „statt dessen Produkte der Unterhaltungsindustrie den meisten Platz beanspruchen“, sodass die Gefahr drohe, bald „in einer Gesellschaft ohne eigene Kunstäußerung zu leben“ (la Motte-Haber, 1982, S. 12). Von der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung rückte man nicht ab, für populäre Musik hatte aber keiner der Herausgeber ein Faible.

Von eigenen musikalischen Vorlieben hat sich Helmut Rösing in seiner Arbeit nicht leiten lassen. Nach kurzem Studium bei Reinecke in Hamburg hat er vor allem bei Walter Graf in Wien gelernt, den Blick des Ethnologen auch auf die eigene Kultur zu richten, Musik also stets als in funktional übergreifende Zusammenhänge des gesellschaftlichen Zusammenlebens eingebettet zu verstehen. Aus diesem Grundinteresse analysiert er die populäre Musikkultur ebenso wie die ‚klassische‘, sodass er im Mozart-Jahr 1991 auf einem Salzburger Kongress nicht etwa Mozarts Musik, sondern – ‚von unten‘ und ganz wertfrei – seine Vermarktung in Form von Mozartkugeln untersucht hat, um Beobachtungen zum Bedürfnis nach personenbezogener Legendenbildung und Stereotypisierung anzustellen (s. Rösing, 2005c, S. 115 ff.). Rösings großes Interesse an der populären Musikkultur begründet sich nicht durch ästhetische Präferenzen, sondern durch die Überzeugung, dass Systematische Musikwissenschaft sich mit der Musik befassen sollte, die am meisten über gegenwärtige Kultur verrät. Von diesem Geist sind auch die beiden Ausgaben des Musikpsychologie-Handbuchs geprägt, die er 1985 und 1993 gemeinsam mit Herbert Bruhn und Rolf Oerter herausgegeben hat. Unter der Überschrift „Aufgabe der Musikpsychologie“ schreiben die Herausgeber dort programmatisch:

„Musik ist a priori ein soziales Phänomen, das eine gesellschaftliche Funktion hat und Bestandteil der Kultur einer Gesellschaft ist. Eine ausschließliche Analyse musikalischer Phänomene ohne Untersuchung des soziokulturellen Hintergrunds müsste als einseitig und wohl auch als naiv gelten. [...] Wie alles Handeln ist auch musikalisches Handeln immer gesellschaftliches Handeln. Die Aufgabe der Musikpsychologie ist es somit, auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu untersuchen, die es dem Individuum ermöglichen, Musik zu machen und zu hören“ (Bruhn, Oerter & Rösing, 1993, S. 19).

Ganz in diesem Sinne beginnt das Handbuch von 1993 mit dem ca. 135 Seiten umfassenden Abschnitt „Musik-Gesellschaft-Kultur“, das u. a. die Kapitel „Kultur und Musikpsychologie“, „Kultureller Habitus und Musik“ oder „Musik und Ideologie“ enthält. Im Kapitel „Sonderfall Abendland“ zeigt Rösing kritisch auf, wie sehr das europäische Kunstmusikverständnis eine Spezialentwicklung ist, die unseren Blick auf andere Musikkulturen keinesfalls normativ prägen sollte.

Im neuen Handbuch von Bruhn, Kopiez & Lehmann gibt es ebenfalls einen eröffnenden Abschnitt zu „Musikkultur und musikalische Sozialisation“, in dem sich dann allerdings überraschenderweise Kapitel zur Lernforschung und zur Begabung wiederfinden. Der quasi-ethnologische Blick und die kritische Distanz Rösings wird dort nur von Günter Kleinen und Tia DeNora beibehalten, ansonsten aber aufgegeben. Im Handbuch von la Motte-Haber & Rötter (2005) findet sich kein entsprechendes Kapitel, was damit zusammenhängen mag, dass es in der Reihe „Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft“ einen eigenen Band zur Musiksoziologie gibt. Gerade in einer solchen Delegierung und Spezialisierung erkennt Rösing aber das Problem:

„Der vergleichend-systematische Forschungsansatz ist interkulturell ausgerichtet und durch Methodenpluralismus gekennzeichnet. Das mag den Nachteil der fehlenden Spezialisierung zur Folge haben; in Zeiten drohender Überspezialisierung allerdings auch den Vorteil, grundlegende Zusammenhänge gegenüber den Details nicht aus den Augen zu verlieren (Rösing, 2005b, S. 19).

Eben darin scheint eines der Probleme heutiger musikpsychologischer Forschung zu liegen: Starke Spezialisierung (für welche US-amerikanische Zustände möglicherweise als Vorbild gedient haben) hat bei vielen Forschern dazu geführt, dass sie sich nicht mehr als Systematische Musikwissenschaftler mit einem breiten Spektrum an Lehrund Forschungsaktivitäten sehen, sondern als Musikpsychologen mit Schwerpunkt Begabung, Lernen, Kognition etc. Auch um international Anschluss zu finden, konzentriert man sich auf seine Nischen und gibt den Anspruch und die Verantwortung auf, als Musikwissenschaftler die gegenwärtige Musikkultur und ihre grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhänge zu überblicken. Kulturund sozialpsychologische Profilbildungen finden sich dabei nicht mehr, was besonders fatal ist, da es in Deutschland auch kaum eine institutionalisierte Musiksoziologie gibt. Dem Problem nicht gerade zuträglich ist die Tatsache, dass die renommiertesten Professuren für Musikpsychologie bzw. Systematische Musikwissenschaft mit faktischem Schwerpunkt in der Musikpsychologie nach einigen Emeritierungen heute an Musikhochschulen statt an Universitäten verortet sind1, woraus sich der Schwerpunkt auf pädagogische und psychologische Aspekte des Musizierens und z. T. auch die große Distanz zum popmusikalischen Alltag erklärt. Zudem fehlt dort die ungezwungene Interdisziplinarität, die sich an Universitäten ganz automatisch ergibt, indem Studierende Fragen und Antworten aus ihren geisteswissenschaftlichen Nebenfächern in die Disziplin tragen oder indem einem beim Besuch der Bibliothek auch soziologische, philosophische, kulturoder medienwissenschaftliche Bücher in die Hände fallen. Sicher wird auch an den Musikhochschulen gezielt interdisziplinär gearbeitet, nur sucht man dort zurzeit offenbar eher die Nähe zur Hirnforschung oder zur Medizin, nicht aber die der Popularmusikforschung oder Soziologie.

Während frühere Musikpsychologen zwar auch empirisch gearbeitet, dabei aber geisteswissenschaftliche Fragestellungen nicht aus den Augen verloren haben, orientiert man sich heute mehr und mehr an naturwissenschaftlichen Idealen, Erkenntnisinteressen und Vorstellungen von Objektivität. Dies beobachtet auch der Kulturpsychologe Christian Allesch (2001):

„So sehr die kognitive Orientierung [...] die Musikpsychologie befruchtet hat, so hat sie doch auch zu einer gewissen Einseitigkeit geführt, was die Musik und das Musikerleben als mentales Phänomen angeht. Kultur tritt in den experimentellen Designs der kognitiven Musikpsychologie, wenn überhaupt, dann bestenfalls als Moderatorvariable auf. Musik als soziokulturelles Phänomen, als ästhetischer Gegenstand, wird mehr oder weniger ausgeblendet oder anderen Disziplinen überlassen. Obwohl die kognitive Wende in den 50er Jahren als interdisziplinäres Projekt begann, hat sie also gerade in der musikpsychologischen Forschung eher doch zu einer Verengung der Forschungsinteressen geführt, die weitgehend der gängigen naturwissenschaftlichen Auffassung von Psychologie entspricht. Gerade in dieser Hinsicht bedarf die Musikpsychologie also mehr denn je einer interdisziplinären Vernetzung über jene zu den Biound Neurowissenschaften hinaus.“

Doch es hat sich gerade die gegenläufige Entwicklung durchgesetzt: „Die Tendenz der letzten Jahre geht [...] immer mehr in Richtung einer Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden auch in der Musikpsychologie“, so Thomas Stoffer (2008, S. 662), dessen Kritik in dieselbe Kerbe schlägt:

„Sowohl Grundlagenforschung als auch Anwendungsforschung der Musikpsychologie sollte sich theoretische Ansätze und empirische Befunde der Musiksoziologie zu Eigen machen [...]. Die musikpsychologische Grundlagenforschung jedoch berücksichtigt musiksoziologische Ansätze noch kaum“ (Stoffer, 2005, 36).

Diese offensichtliche Entfernung vom eingangs beschriebenen gemeinsamen kulturwissenschaftlichen Ausgangspunkt macht den Dialog mit der Musiksoziologie oder der Popularmusikforschung nicht leichter, zumal sich neben den Methoden auch die Vorstellungen über die gesellschaftlichen Aufgaben von Wissenschaft auseinander entwickelt haben. Mit dem schwindenden Interesse für soziale und politische Zusammenhänge ist auch der kritische Impetus verloren gegangen. Orientiert am naturwissenschaftlichen Ideal ist Musikpsychologie heute um größtmögliche Neutralität bemüht und meldet sich allenfalls dann politisch zu Wort, wenn es um die Forderung nach mehr Musikunterricht in den Schulen geht. Dagegen bemühen sich zumindest Teile der Popularmusikforschung – der Musiksoziologie Adorno’scher und Blaukopf’scher Prägung ähnlich – um Aufklärung und Emanzipation. Durch den Einfluss der britischen Cultural Studies, Foucaultscher Diskurstheorie, der Gender und Postcolonical Studies setzen sich vor allem international Popularmusikforscher mit ihrer Arbeit für die Emanzipation und das Empowerment sozial und politisch Benachteiligter ein. Und trotz Adornos Verdikten über die ‚leichte Musik‘ ist seine Kritik an der Kulturindustrie nach wie vor einflussreich. Entsprechend bemühen sich Popmusikforscher, Einsichten in gesellschaftliche Machtverhältnisse, in Mechanismen, Strukturen und Wirkungen der Musikund Medienindustrie und ihrer Produkte zu vermitteln, um so einen Beitrag zum mündigen Umgang mit medial vermittelter Kultur zu leisten (vgl. die Ergebnisse der letzten Tagungen des Arbeitskreis Studium Populäre Musik (ASPM) zu Themen wie dem Umgang mit 9/11 in der populären Musik, Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo, Musik-Wettbewerbe, Kanonbildung, populäre Musik und Stadt oder Sex und populäre Musik, Helms & Phleps, 2003, 2004, 2005, 2007, 2008 und 2011).

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