Gruppen aufgabenzentriert moderieren - Theorie und Praxis

Gruppen aufgabenzentriert moderieren - Theorie und Praxis

 

 

 

von: Erich H. Witte

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840922893

Sprache: Deutsch

172 Seiten, Download: 1749 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Gruppen aufgabenzentriert moderieren - Theorie und Praxis



Dabei besteht allerdings kontinuierlich die Gefahr, dass soziale und Leistungskomponenten konfundiert werden . Gruppen überschätzen ihre eigene Leistung systematisch (Heath & Jourdan, 1997), was vermutlich auf eine Verzerrung durch ein positives Klima zurückzuführen ist . Emotionale Zufriedenheit mit der Gruppenleistung ist damit nicht durch eine gute Leistung verursacht (Mullen & Copper, 1994), sondern vielmehr die positive Beziehung ist Ursache der guten Leistungsbewertung (Witte & Lecher, 1998) . Dieser Wahrnehmungsverzerrung unterliegen auch Beobachter: Ist die Güte der Lösung nicht genau einzuschätzen, wird die Gruppenatmosphäre als Indikator für die Leistungsqualität herangezogen (Badke-Schaub, 1994) .

Als eine sehr einfache „Subjektive Theorie“ der Gruppenleistung wird unterstellt, dass die erfolgreiche Bearbeitung der sozio-emotionalen Seite quasi automatisch auch die konkrete Aufgabenbearbeitung gefördert hat . Nicht selten herrscht in unserer Kultur die Annahme vor, dass über die Verbesserung des Gruppenklimas auch die Aufgabenbewältigung verbessert wird . Das ist in dieser einfachen Ursache-Wirkungs-Annahme nicht richtig, genauso wenig wie eine schlechte Gruppenatmosphäre immer hinderlich sein muss . Hier die laienpsychologische Annahme und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrem Widerspruch zu erkennen, ist die notwendige Voraussetzung für den effektiven Einsatz von Gruppen und die Anwendung leistungsfähiger, wissenschaftlich überprüfter Moderationsmethoden .

Gegen diese fest verankerten Erwartungen und Annahmen, die vermeintlich auch durch die Erfahrung gestützt werden, ist es sehr schwierig vorzugehen, um dann schließlich wirksame, theoretisch begründete und überprüfte Verfahren einzusetzen . Jeder Leser dieses Buches wird vor dieser Aufgabe stehen, weil die naiven Vorstellungen und die wissenschaftlichen Ergebnisse sich sehr häufig widersprechen . Gerade in den Sozialwissenschaften ist die offensichtliche Erfahrung nur schwer durch theoretische Annahmen und empirische Forschung zu korrigieren, weil wir über unser Erfahrungswissen so eng mit dem Geschehen verbunden sind . Um diese enge Bindung zu verstehen, muss man sich nur die „Erfahrung“, dass sich jeden Morgen die Sonne um die Erde dreht, ins Gedächtnis rufen . Es hat etwa 1 500 Jahre von Ptolemäus zu Galilei gedauert, bis die Menschen einen deutlichen Widerspruch gegen diese Erfahrung – durch theoretische Überlegungen und empirische Prüfungen belegt – die Umkehrung berichtet bekamen, ohne dass sofort auch diese Erkenntnis akzeptiert worden ist . Das Äußern dieser Erkenntnis war aufgrund der Inquisition sogar lebensbedrohlich . So dramatisch wird es bei der Einforderung von Moderationstechniken, die den sozialen Repräsentationen widersprechen, nicht sein, aber einfach ist es auch nicht .

Letztlich erwarten wir durch Gruppen einen Synergieeffekt (Larson, 2010), d . h . wir glauben, dass Gruppen eine qualitativ höherwertigere Lösung erarbeiten als die besten Individuen, zumindest aber erwarten wir, dass Gruppen besser sind als das durchschnittliche Individuum .

Wir erwarten, dass durch die anderen Gruppenmitglieder jeder einzelne angespornt wird und durch die zusätzliche Motivation eine bessere Leistung erbringt . Eine solche Konzeption wird dann gern als „Team Spirit“ bezeichnet . Diese Motivationssteigerung in Gruppen kommt vor, sie ist aber eher die Ausnahme als die unterstellte Regel . Wenn man Gruppen bildet, dann denkt man ebenfalls daran, dass ein Fehlerausgleich stattfindet, indem man Überschätzungen durch Unterschätzungen in der Gruppe kompensiert, z . B . bei der Vorhersage des Wirtschaftswachstums oder der Arbeitslosigkeit im folgenden Jahr . Schließlich gibt es hochkomplexe Probleme, die nur von mehreren Spezialisten in Projektgruppen gemeinsam bearbeitet werden können .

Man hofft dann auf die Integration von speziellem Wissen zu einer gemeinsamen Lösung, z . B . die Erteilung der Starterlaubnis für die bemannte Raumfahrt durch das Team der NASA . Es gab die Challenger-Katastrophe im Jahre 1986, aber ebenfalls die ColumbiaKatastrophe 2003 . Beide basierten auf Fehlentscheidungen in Gruppen, die verschiedene Informationen von Experten integrieren mussten, und das nicht angemessen getan haben . Diese spektakulären Fehlentscheidungen sind natürlich nur die deutlich sichtbaren Fälle . Sehr viele Fehlentscheidungen werden kaschiert oder man kann sie überhaupt nicht entdecken, weil man die Ausgänge der Alternativen nicht kennt .

Generell sieht aber unsere soziale Praxis so aus, dass wir immer dann, wenn die Probleme schwerwiegender werden, Gruppen einrichten, die diese Probleme lösen sollen . In unserem juristischen System gibt es den Weg vom Einzelrichter auf die nächsthöhere Instanz des Schöffengerichts, das aus einer Gruppe besteht . In der Politik haben wir die Entscheidung eines einzelnen Ministers oder die Entscheidung des Kabinetts . Bei den akademischen Prüfungen gibt es einen Zweitprüfer oder einen Beisitzer . Unsere soziale Praxis vertraut also Gruppenentscheidungen mehr als Einzelentscheidungen . Auch im Alltag sind uns Gruppen wichtig . Wir wollen Freunde haben . Die meisten Menschen streben eine enge Partnerschaft an . Menschen sind also schon durch die Evolution genetisch auf das Leben in Gruppen eingerichtet .

1.3 Proximate und ultimate Beurteilung von Gruppenleistungen

Kleingruppenforscher haben in den letzten 50 Jahren zwar vorwiegend die eher fehlerhaften oder suboptimalen Ergebnisse von Kleingruppen ins Zentrum gerückt (Kerr & Tindale, 2004) . Gleichzeitig aber ist in den letzten Jahren durch die intensive Beschäftigung mit der evolutionären Sozialpsychologie (Simpson & Kenrick, 1997) deutlich geworden, dass der homo sapiens immer schon in Bedingungen lebt, die durch einen Gruppenkontext vielfältig geprägt worden sind (Kameda & Tindale, 2006) . In Anbetracht der Ergebnisse der Kleingruppenforschung, dass Gruppen so schlecht funktionieren, müsste der Mensch eigentlich ausgestorben sein (Wilson, 1997) .

Offensichtlich gibt es zwei Betrachtungsebenen:
• Man wählt als Zeitperspektive die Gegenwart und bewertet die Gruppenleistung aus dem direkt beobachteten Ergebnis in der konkreten Situation . Das ist die Position einer proximaten Beurteilung von Gruppenleistungen .
• Demgegenüber kann man als Zeitperspektive die evolutionäre Entwicklung des Men schen wählen . Dann stellt sich die Frage, welche Verhaltensweisen durch die natürliche Selektion beim Menschen ausgebildet worden sind, weil sie einen Fortpflanzungsvorteil beinhalten . Die Wirkung der natürlichen Selektion muss man sich über den gesamten Prozess der belebten Natur vorstellen . Der Homo sapiens ist dabei eine spezifische Ausformung dieses Entwicklungsprozesses . Dabei werden durch die Anpassung an die Umwelt diejenigen Verhaltensweisen genetisch unterstützt, die die Fortpflanzungschance des Genoms erhöhen . Betrachtet man das menschliche Verhalten und damit die Gruppenleistung aus dieser Perspektive, dann nimmt man eine ultimate Beurteilung vor .

„Ultimat“ soll also in den nachfolgenden Ausführungen immer als Beurteilungsmaßstab auf die Evolution mit den entsprechenden Vorteilen bei der Weitergabe des Genoms verweisen, „proximat“ immer auf die Gegenwart und die Bearbeitung einer konkreten Aufgabe . Das sind zwei verschiedene Zeithorizonte und Beurteilungsmaßstäbe, die bei der Bewertung der Gruppenleistung unterschieden werden müssen . Man kann nun die Gruppenleistung aus einer proximaten Perspektive betrachten und vielfältige Leistungseinbußen erkennen:
a) bei der Motivation (social loafing),
b) bei der Problemlösung,
c) bei der Hilfeleistung,
d) beim Informationsaustausch und e) bei der Kreativität .

Wenn man dieses weiß, kann man sich jetzt bemühen, diese Verhaltensweisen so zu gestalten, dass sie nicht auftreten, z . B . durch gezielte Moderation (Witte & Sack, 1999; Witte, 2001a, b; 2007) . Dabei entsteht gleichzeitig die Frage, ob Menschen in natürlichinteragierenden Gruppen verhaltensbiologisch so angelegt sind, dass mit den entsprechenden proximaten Einbußen zu rechnen ist . Dieses umso mehr, wenn man zeigen kann, dass proximate Einbußen ultimate Vorteile bei der Fortpflanzung der Individuen bringen können . Offensichtlich kann eine Bewertung der Gruppenleistung aus einer proximaten Sicht und aus einer ultimaten Perspektive erheblich divergieren . Wenn man nun zeigen kann, dass ein Leistungsverlust aus proximater Sicht einen ultimaten Vorteil darstellt, dann sollte man mit diesem Leistungsverlust unter „normalen“ Bedingungen, d .h . bei nicht durch gezielte Anleitung modifizierten Verhaltensweisen (Moderation), rechnen . Will man unter diesen Umständen einen proximaten Leistungsgewinn herbeiführen, so muss man gezielt eingreifen, weil aus der ultimaten Perspektive gewisse Verhaltensweisen in Gruppenkontexten im Laufe der Evolution angelegt wurden .

Letztlich wird im Alltag jedoch deutlich, dass für die Bewältigung proximater Aufgaben auf einem hohen Niveau das Potenzial von Gruppen unverzichtbar ist, weil nur so der sich schnell verändernden und komplexen Umwelt begegnet werden kann .

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