Kompendium Unterstützte Kommunikation

Kompendium Unterstützte Kommunikation

 

 

 

von: Jens Boenisch, Stefanie K. Sachse

Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN: 9783170360600

Sprache: Deutsch

427 Seiten, Download: 7804 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kompendium Unterstützte Kommunikation



 

Teilhaben und Mitbestimmen. Unterstützte Kommunikation hat viele Facetten


Etta Wilken


Jedes Kind hat von Geburt an kommunikative Bedürfnisse, aber auch entsprechende Fähigkeiten, für deren Entwicklung es die Zuwendung seiner Bezugspersonen und geeignete Lebensbedingungen benötigt. Ohne ein liebevolles Eingebundensein und ohne angemessene Ansprache ist eine normale Entwicklung nicht möglich – wie schon ältere Forschungen zum Hospitalismus (vgl. Spitz 1945) und zur Bindungstheorie (Bowlby 1969) zeigten. Kommunikation ist ein menschliches Grundbedürfnis und lebensnotwendig in jedem Lebensalter. Personen mit Einschränkungen der Kommunikation sind deshalb nicht nur in der Verständigung beeinträchtigt, sondern in sozialer Teilhabe, aktiver Mitbestimmung und (Mit-) Gestaltung ihrer Lebenswirklichkeit und sie erleben oft vielfältige frustrierende Situationen von Nicht- oder Falschverstehen. Zudem kann die kognitive und emotionale Entwicklung gerade von kleinen in ihrer Kommunikation beeinträchtigten Kindern erheblich betroffen sein und sprachgebundene Lern- und Erkenntnisprozesse erschweren.

Unterstützte Kommunikation hat deshalb das Ziel, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur besondere Möglichkeiten zum Verstehen und Verständigen anzubieten, sondern auch die gesamte Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, angemessene Bedingungen für Partizipation und Selbstbestimmung zu schaffen und sprachspezifisches, nicht sprechgebundenes (!) Lernen zu ermöglichen. Dazu gehören auch verschiedene Konzepte zur Vermittlung einer individuell angepassten Lese- und Schreibkompetenz.

Bei der Vielfalt der heute verfügbaren Möglichkeiten zur Förderung und Unterstützung der Kommunikation kann man sich kaum vorstellen, wie mühsam die Anfänge oft waren.

Ich erinnere mich an einen dreijährigen Jungen, den ich Ende der 1960er Jahre kennenlernte. Er war sehr hypoton, lag gestützt in einem Spezialsitz und konnte weder Arme noch Beine bewegen. Er konnte nicht sprechen, aber er äußerte sich mit unterscheidbaren Lauten, die Unbehagen, Ablehnung und Zustimmung ausdrückten. Die Mutter hatte mit ihm eine Kommunikationsform entwickelt, die in alltäglichen Situationen eine Verständigung ermöglichte. Sie stellte ihm Fragen, die er bei Bejahen mit Anblicken und kurzem Schließen der Augen beantwortete, bei Verneinung kniff er die Augen fest zusammen. Beeindruckend war jedoch vor allem, dass er manchmal nur das rechte Auge zukniff und das bedeutete, die Mutter solle ihre Frage anders formulieren!

In ihrem Lebensalltag mit dem Kind machen Eltern eigentlich immer spontane intuitive Kommunikationsangebote und haben bewusste, aber auch unbewusste Erwartungen, wie das Kind darauf reagiert. So wird ein Kind, das sich regelhaft entwickelt, schon mit wenigen Wochen auf Ansprache mit Hinwendung, Gurren und Lächeln antworten. Wenn ein Kind dagegen erwartungsabweichendes Verhalten zeigt wie Abwenden des Kopfes oder auch nur eine stark verzögerte Antwort-Reaktion, kann es deshalb gerade in der frühen Interaktion zu Fehlinterpretationen und mangelnder wechselseitiger Abstimmung kommen sowie zu Verunsicherung und Frustrationen bei den Eltern (vgl. Wilken 2018, 7). Kinder lernen im Erwartungshorizont ihrer Bezugspersonen, die ihnen im Lebensalltag vielfältige Angebote machen, weil sie zuversichtlich davon ausgehen, dass ihr Kind sie schon zunehmend verstehen wird. Eine geringere Aktivität des Kindes kann dagegen die üblichen kommunikativen Angebote der Eltern erheblich reduzieren. Deshalb zeigte das entwicklungsrelevante »dialogische Echo« der Mütter von Kindern mit Down-Syndrom einen »Abwärtstrend« mit einem Tiefpunkt etwa im neunten Entwicklungsmonat (Horsch et al. 2008, 17). Aber gerade eine gelingende Mutter-Kind-Kooperation in Alltagssituationen ist für die Kommunikationsentwicklung der Kinder wichtig, während dagegen eine häufige Nichtinterpretation oder ein Fehldeuten ihres Verhaltens ihre Aktivität und Mitteilungsbereitschaft nachhaltig beeinträchtigen kann (vgl. Wilken 1982).

Trotz vieler Schwierigkeiten waren es aber meistens die Eltern, die im täglichen Umgang mit ihrem Kind sein Entwicklungspotential erkannten, sich durch Fachleute nicht beirren ließen und nach geeigneten Angeboten suchten. Daraus ergaben sich sehr individuelle kreative Lösungen. Ein gehörloser Junge mit cerebralen Bewegungsstörungen entwickelte im Kontext von Alltagserfahrungen zusammen mit seinen Eltern eigene Zeichen. So bezeichnete er mit ›Affe‹ sowohl das Tier als auch »blöde Leute«, »indem er den Unterkiefer mit seiner Zunge weit vordrückte. Das Einziehen des Kopfes zwischen die Schultern war das Zeichen für Autobahn (ein Hinweis auf die vielen Brücken), das Lecken an einem Finger bedeutete, dass er ein Buch ansehen wollte« (Wilken 1974, 55). Eine wesentliche Erweiterung seiner Kommunikationsmöglichkeiten ergab sich, als er in der Schule auf einer elektrischen Schreibmaschine mit einem Finger sehr mühsam schreiben lernte. Auch ein anderer junger Mann beschreibt in seiner Biographie dankbar, wie seine Familie »mit seinen mühsalvollen, kopfnickenden, kreativen, wenn auch stummen Kommunikationsversuchen« umging (Nolan 1987, 10) und welcher Durchbruch das Schreiben mit einem Stirnstab für ihn bedeute, auch um seine »Zurechnungsfähigkeit« zu beweisen. Allerdings musste die Mutter sein »krudes, starrköpfiges Nicken« abfedern, weil »bei jeder Berührung seines Zeigestocks mit den Tasten der Schreibmaschine sein Körper hintenüber gepeitscht wurde« (ebd. 77).

Für so erheblich beeinträchtigte Personen bedeutete damals die Possum-Schreibmaschineneinheit, eine mit pneumatischen Drucktasten gesteuerte elektrische Schreibmaschine, einen enormen Fortschritt – auch wenn das Gerät ein Monstrum war. Es ist deshalb aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, dass einem jungen Mann ein solches Gerät mit der Begründung verweigert wurde, dass er doch über etwas »Lautsprache verfüge, die zumindest seine Mutter einigermaßen verstehen« kann. »Zudem könne er nicht schreiben und lesen. Dass er damit lesen lernen könnte, vermag an dieser Entscheidung nichts zu ändern. Es könne somit kein Nutzeffekt erzielt werden und auch eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit sei nicht zu erwarten« (Versicherungsgericht des Kantons Bern vom 16. Dez. 1975).

Während im Elternhaus oft sehr individuelle Kommunikationsformen entwickelt wurden, begann eine systematischere Förderung vorwiegend im schulischen Kontext in den 1970er Jahren. Dabei ging es meistens für die körperbehinderten Schüler und Schülerinnen um Wissensvermittlung und Sprachförderung, aber auch um die Förderung von Lesen und Schreiben. Bei den geistig behinderten Schülerinnen und Schülern dominierte dagegen die sogenannte lebenspraktische Bildung. Sprachförderung wurde – wenn überhaupt angeboten – vorwiegend als Förderung der Lautsprache verstanden. Andere Formen der kommunikativen Förderung fanden kaum Berücksichtigung. Erst in den 1980er Jahren wurde zunehmend deutlich, dass es auch für kognitiv beeinträchtigte Kinder wichtig ist, spezielle Angebote zur Verständigung zu erhalten. Neue Möglichkeiten wurden gefunden, und die technische Entwicklung brachte enorme Fortschritte und Verbesserungen. Allerdings bestand lange eine Dominanz von schulischen Lernzielen. Nur langsam erfolgte eine stärkere Lebensweltorientierung, und es wurden differenziertere Angebote zur Kommunikation und Teilhabe angeboten.

Dadurch zeigte sich auch deutlich, dass es nicht zu verantworten war, bis ins Schulalter mit einer solchen kindorientierten Kommunikationsförderung zu warten, sondern dass wesentliche Erkenntnisse bereits in die Frühförderung und in das Vorschulalter zu übertragen waren, um sowohl die sozial-emotionale als auch die kommunikative Entwicklung sprachentwicklungsgefährdeter Kinder frühzeitig und angemessen zu unterstützen. Vorurteile über die nachteilige Wirkung alternativer und ergänzender Kommunikationsangebote konnten mit den gemachten vielfältigen Erfahrungen vermindert werden, auch wenn sie immer noch nicht ganz überwunden sind. Vor allem Gebärden zur Förderung der Verständigung mit kleinen (noch) nicht sprechenden Kindern wurden zunehmend bedeutungsvoll. Gut dokumentiert ist mittlerweile, wie die sprachliche Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom, aber auch von Kindern mit sehr unterschiedlichen anderen Beeinträchtigungen mit Gebärden unterstützt werden kann (vgl. Wilken 2019, 92ff.). Die in den 1990er Jahren noch bestehenden Befürchtungen, damit das Sprechenlernen zu verhindern, konnten überwiegend ausgeräumt werden.

Erste Angebote zum frühen Lesen zur sprachlichen Förderung beeinträchtigter Kinder wurden in den 1970er...

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