Eltern von sexuell missbrauchten Kindern - Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe

Eltern von sexuell missbrauchten Kindern - Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe

 

 

 

von: Dirk Bange

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783840923579

Sprache: Deutsch

191 Seiten, Download: 13530 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Eltern von sexuell missbrauchten Kindern - Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe



5 Eltern zwischen Glauben, Unterstützen und Leugnen (S. 74-75)
In den ersten Tagen nach der Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs wirken die Reaktionen von nicht missbrauchenden Müttern und Vätern auf Außenstehende oftmals auf eine befremdliche Art und Weise distanziert, ambivalent und unentschlossen. Selbst ein Teil der Mütter und Väter, die ansonsten eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern haben, ihre Kinder vorbehaltlos unterstützen und schützend auftreten, zeigen häufig inkonsistente und ambivalente Reaktionen. Sie schwanken in ihrer Haltung, ob sie ihrem Kind glauben sollen oder nicht. Sie bagatellisieren den sexuellen Missbrauch oder möchten ihn nicht wahrhaben. Sich selbst werfen die Eltern vielfach vor, nicht genügend Zeit für ihr Kind gehabt und/oder es nicht genügend über mögliche Gefahren aufgeklärt zu haben. Wenn das Kind ihnen gegenüber den sexuellen Missbrauch schon früher angedeutet hat, sind sie ärgerlich auf sich selbst, weil sie ihren Kindern nicht zugehört, die mehr oder weniger deutlichen Hinweise nicht wahrgenommen oder nicht richtig interpretiert haben. Sie haben folglich nicht reagiert und werfen sich dies vor. Einige Eltern schimpfen ihre Kinder aus, weil sie beispielsweise ohne Erlaubnis das Haus verlassen haben. Oft äußern sich die Eltern enttäuscht, weil ihr Kind ihnen nicht sofort erzählt hat, was passiert ist. Und gerade Jungen werfen sie häufig vor, sich falsch verhalten oder sich nicht genügend gewehrt zu haben. Bei Jungen scheinen insbesondere die Väter den Missbrauch nicht wahrhaben zu wollen. Wegen der fehlenden Aufklärung von Eltern über sexuellen Missbrauch an Jungen ist der Schock oft besonders groß. Väter und Mütter von Söhnen befürchten darüber hinaus, ihr Sohn könne homosexuell und von anderen als Junge verlacht werden (Bange 2007, S. 86 f., McGuffey 2005, S. 638). Solche Reaktionen der Eltern sind letztlich meist verzweifelte Versuche, sich selbst vor der Wahrheit und der eigenen Betroffenheit zu schützen. Sie verstärken jedoch die Ängste der Mädchen und Jungen und damit ihr Leiden. Die Kinder fühlen sich allein gelassen mit ihren Ängsten und ambivalenten Gefühlen, sie werden ausgeschimpft und ihnen werden Vorwürfe gemacht. Im Grunde reagieren viele Eltern so, wie sich die Kinder dies in ihren Gedanken vor der Aufdeckung ausgemalt haben und warum sie vielfach so lange damit zögern, sich ihren Müttern und Vätern anzuvertrauen (s. Kapitel 3).

Vor mittlerweile mehr als 25 Jahren hat David Finkelhor (1984, S. 71 ff.) 334 Mütter und 187 Väter aus Boston danach befragt, welche Gefühle der sexuelle Missbrauch ihres Kindes bei ihnen hervorgerufen hat bzw. hervorrufen würde. Seinen Ergebnissen nach sind die oben beschriebenen Gefühle normal. Von den 48 Eltern, deren Kinder sexuell missbraucht worden waren, waren 90 % wütend auf den Täter, 88 % emotional außer sich, 81 % verängstigt, 77 % fühlten sich schuldig und 10 % waren wütend auf das Kind. Die Antworten der befragten Eltern, deren Kinder nicht missbraucht worden waren und die diese Frage hypothetisch beantworten sollten, waren fast deckungsgleich: 99 % würden wütend auf den Täter sein, 98 % emotional außer sich, 89 % verängstigt und 91 % würden sich schuldig fühlen. In der Untersuchung von Allan R. De Jong (1988, S. 18) äußerten die befragten Mütter sexuell missbrauchter Kinder ähnliche Gefühle. Neben den bereits genannten Gefühlen sorgten sich 83 % der ihre Kinder unterstützenden Müt- ter über die möglichen Folgen des sexuellen Missbrauchs für ihre Kinder. Von ihnen war nur ein Drittel wütend auf den Täter, während die ihre Kinder nicht unterstützenden Mütter zu zwei Dritteln wütend auf die Kinder waren.

Bei Eltern, deren Partner oder ein enger Freund der Familie, zu dem immer noch Kontakt besteht, der Täter war, treten diese Gefühle und Reaktionen oft in extremer Form auf. Eine Entlastung und klare Haltung können sich bei ihnen in der Regel erst ergeben, wenn sie den Kontakt zum Täter abbrechen und die Beziehung zu ihm geklärt ist.

5.1 Forschungsmethodische Probleme
Die vorliegenden Untersuchungen über die elterlichen Reaktionen weisen zahlreiche methodische Probleme auf, die ihre Vergleichbarkeit und die Aussagekraft ihrer Ergebnisse deutlich einschränken: Ein großer Teil der Untersuchungen basiert auf kleinen Stichproben, die zudem meist aus einem klinischen Kontext kommen. Sie dürfen deshalb nicht verallgemeinert werden (s. Tab 3 und 4). Sehr häufig fehlen außerdem Vergleichsgruppen, ohne die nicht herauszufinden ist, wie sich die Eltern sexuell missbrauchter Kinder von anderen Müttern und Vätern unterscheiden. Darüber hinaus wird vielfach nicht zwischen innerfamilialem und außerfamilialem sexuellen Missbrauch sowie anderen wichtigen Faktoren wie dem Alter oder dem Geschlecht der Kinder differenziert (Nahkle Tamraz 1996, S. 88 f.). Wie im gesamten Feld der Erforschung des sexuellen Missbrauchs werden in den Studien zudem sehr unterschiedliche Definitionen sexuellen Missbrauchs verwendet, was die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse zusätzlich erschwert (Wipplinger & Amann 2005, S. 25 f., Bange 2004, S. 30 f., Kapitel 1).

Definition elterlicher Reaktionen
In den meisten Studien wird entweder schlicht danach gefragt, ob die Mütter – Väter sind bisher in die Untersuchungen nicht einbezogen worden – den Kindern geglaubt und/oder ob die Mütter sie unterstützt haben. In einigen Studien wird darüber hinaus erhoben, ob die Mütter schützend tätig geworden sind und/oder ob sie etwas gegen den Beschuldigten unternommen bzw. den Kontakt zum Beschuldigten unterbunden haben (Bolen 2002, S. 41, Heriot 1996, S. 182, Nahkle Tamraz 1996, S. 89).

Glauben, Unterstützung und Schutz sind jedoch sich überlappende Konstrukte, die tatsächlich nur schwer voneinander zu trennen sind. So kann ein Elternteil, das dem Kind glaubt, sich mit der Unterstützung schwer tun oder eine Mutter glaubt zwar ihrem Kind, aber nicht, dass ihr Mann der Täter ist (Elliott & Carnes 2001, S. 315). Zu wenig berücksichtigt wird zudem, zu welchem Zeitpunkt nach der Aufdeckung die Untersuchungen stattfinden, da die elterlichen Reaktionen auf den sexuellen Missbrauch ihres Kindes sich mit der Zeit verändern (können) (Heriot 1996, S. 182).

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