Gruppentherapie bei Zwangsstörungen - Ein verhaltenstherapeutisch-systemischer Leitfaden

Gruppentherapie bei Zwangsstörungen - Ein verhaltenstherapeutisch-systemischer Leitfaden

 

 

 

von: Igor Tominschek, Michael Zaudig, Claudia Mehl, Evi Vant, Walter Hauke

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783844426137

Sprache: Deutsch

253 Seiten, Download: 7919 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Gruppentherapie bei Zwangsstörungen - Ein verhaltenstherapeutisch-systemischer Leitfaden



|33|2 Verhaltenstherapeutische Ätiologiemodelle


Walter Hauke und Igor Tominschek

Die Ursachenerklärung von Zwangsstörungen hat in den letzten zwei Jahrzehnten einige Fortschritte gemacht, wenngleich eine umfassende Theorie noch nicht vorliegt. Aktuell existieren sowohl biologische wie auch psychologische Störungsmodelle. Es gibt Nachweise für neurobiologische Auffälligkeiten bei Zwangsstörungen seit dem Beginn der Arbeiten der Baxter-Gruppe (1992). Außerdem gibt es Hinweise, dass zwanghaft-repetitives Verhalten genetisch weitergegeben wird (Walitza et al., 2008). Und damit stellt sich die Frage nach dem evolutionären Sinn solcher Verhaltensstereotypien, da es bei Zwangsverhalten in der Hauptsache um Waschen, Kontrollieren und Horten geht – alles Handlungen, welche in der frühen Menschheitsgeschichte durchaus einen Überlebensvorteil darstellten. Vergleichende Verhaltensforschung zeigte, dass auf solche Verhaltensschablonen in ausweglosen Stresssituationen zurückgegriffen wird: Versuchstiere neigen unter solchen Bedingungen zu übermäßigem Putzverhalten und irrationalen Verhaltensstereotypien. Man spricht dann von „Übersprungshandlungen“, welche dem Stressabbau des Organismus dienen. Inwiefern neurobiologische Auffälligkeiten existieren (sog. „kortiko-stratiale Hypothese“; Saxena et al., 2000), welche ein solches Verhalten bahnen, ist noch Gegenstand der Forschung. Hand (2006) spricht in diesem Zusammenhang von der „inadäquat leicht zu aktivierenden genetisch-evolutionären Zwangsreaktion“. Psychologische Erklärungsmodelle dagegen beschäftigen sich mit den Stressbedingungen, unter welchen Individuen Zwangsverhalten aufbauen, und mit der Funktion, welches das Zwangsverhalten als Copingstrategie hat.

2.1 Das kognitive Modell von Salkovskis


Dieser seit Ende der 80er Jahre existierende Ansatz zur Erklärung von Zwangsverhalten (Salkovskis & Warwick, 1988; vgl. Abb. 2) geht davon aus, dass jeder Mensch immer wieder Impulse oder Vorstellungen hat, welche jenen von Zwangspatienten gleichen, z. B. aggressiv gegen andere Personen vorzugehen. Zwangsbetroffene würden sich aber aufgrund ihrer Lerngeschichte durch ein hohes Maß an Verantwortungsübernahme und unverrückbare Einstellungen (sog. „belief-systems“) auszeichnen. Durch deren Einwirken würden die Zwangsimpulse eine bedrohliche Bedeutung gewinnen, und es käme zu starker Verunsicherung beim Betroffenen, ob er den inneren Impuls in die Tat umsetzen könnte. In der Folge komme es zur massiven Abwehr solcher Gedanken mit dem Ergebnis ihrer umso heftigeren Persistenz. Wegen der so entstehenden unerträglichen emotionalen |34|Lage („discomfort“) käme es dann beim überwiegenden Teil der Betroffenen zum Bedürfnis nach Milderung/Neutralisierung mittels Einsatz von Beruhigungsstrategien („Neutralisieren“). Diese Strategien würden den individuellen „belief-systems“ entsprechen: So würde z. B. ein religiöser Patient beim Aufkommen blasphemischer Zwangsimpulse mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu religiös motivierten Neutralisierungen neigen, z. B. ritualisiertem Beten. Die nach dem Neutralisieren einsetzende Erregungsreduktion stellt eine negative Rückkopplung für die vorausgegangenen Reaktionen dar. Dadurch bekommt der anfangs zufällig aufgetretene Gedanke einen besonderen Stellenwert.

Abbildung 2: Das kognitive Modell von Salkovskis et al. (1988)

In einer Erweiterung dieser kognitiven Modellvorstellung, in der es im Kern um eine Fehlbewertung von intrusiven Gedanken geht, betont die neuere Emotionsforschung den Stellenwert unterdrückter Gefühle (vgl. Abb. 3). Betrachten wir hierzu ein in der klinischen Praxis häufiges Beispiel, nämlich eine Mutter mit aggressiven Zwangsimpulsen gegenüber ihrem Kind. Demnach trifft die Patientin auf einen Widerstand ihres Kindes gegen dem abendlichen Zubettgehen (UCS = unkonditionierter Stimulus) und reagiert darauf spontan mit aggressiven Gefühlen (UCR = unkonditionierte Reaktion). Die Aggression stellt einen Handlungsimpuls dar, welchem aber nicht stattgegeben wird – vor allem dann nicht, wenn die Patientin selbst negative Erfahrungen mit Aggressionen gemacht hat. Die aggressive Spannung bleibt im Organismus gespeichert, es entsteht ein emotional angespannter Ausnahmezustand. Mit diesem lässt sich die Patientin zum Zeitunglesen nieder, liest z. B. von einer Gewalttat gegen kleine Kinder und kommt aufgrund von assoziativer Verknüpfung (Moritz, 2010) auf die Idee, sie könnte selbst ihrem Kind so etwas antun. Der Schreck darüber hat ausgesprochen bestrafenden Charakter im Sinne der Lerntheorie. Der Gedanke der Schädigung des Kindes bekommt dadurch einen besonderen Stellungwert in ihrem Denken. Bandura (zitiert nach Reinecker, 1994) hat dies bereits in seinen frühen Arbeiten über die Wirkung von Bestrafung kindlicher Aggression gezeigt, wonach die Bestrafung offene Aggression zwar unterdrückt, im Gedächtnis der Be|35|troffenen aber für Löschungsresistenz sorgt. Abschließend bedarf es nun nur noch einer Reizgeneralisation, wonach jedes aggressionsauslösende Thema (z. B. Ärger in der Arbeit) zum Zwangsimpuls führt, das eigene Kind zu töten. Mit diesem Modell kann man sich das Verhalten von Patienten erklären, die entsetzt sind, dass sie „so etwas“ denken können, und dies mit der Gefahr gleichsetzen, dass sie das Gedachte tatsächlich ausführen. Folgt man nun dieser Theorie des Entstehens von Zwangsimpulsen aufgrund von Zielbehinderung einer einmal aufgetretenen Primäremotion (Birbaumer et al., 2010), so vernachlässigt das „kognitive“ Modell von Salkovskis den emotionalen Konflikt der Betroffenen (Hauke & Niedermeier, 2002).

Abbildung 3: Modell zur Konditionierung von Zwangsimpulsen durch Verhinderung von Primäremotionen (1: Regulationsfunktion der Primäremotion; Birbaumer et al., 2010; 2: Bestrafung als „kognitiver Hinweisreiz auf die besondere Bedeutsamkeit von Verhalten“; Reinecker, 1994, in Anlehnung an Bandura)

Anmerkungen: UCS = unkonditionierter Stimulus, UCR = unkonditionierte Reaktion, S = Stimulus, R = Reaktion, C = Konsequenz

2.2 Das Zwei-Faktoren-Modell von Mowrer



Mowrer (1947) beschreibt in seinem Modell eine Kombination aus klassischer und operanter Konditionierung. Unkonditionierte Auslöser (S = Stimuli) erzeugen eine konditionierte Reaktion (R1 = Zwangsbefürchtung). Im Organismus ent|36|steht unmittelbar die Tendenz, nicht an die Zwangsbefürchtung zu denken. Da man den eigenen Gedanken nicht entfliehen kann, bietet sich als Ausweg die Neutralisation der Zwangsbefürchtung (z. B. 20-mal Händewaschen) oder die Vermeidung der zwangsauslösenden Situation als Reaktion (R2) an. Lerntheoretisch betrachtet stellt dies eine operante Konditionierung dar (Niedermeier & Bossert-Zaudig, 2002), denn es kommt durch Vermeidung und Neutralisation zur Beseitigung eines aversiven Zustands (vgl. Abb. 4). Der Wegfall des aversiven Zustands erhöht die Wahrscheinlichkeit des künftigen Auftretens von Vermeidung und Neutralisation, was aus lerntheoretischer Sicht eine negative Verstärkung dieses Verhaltens darstellt. In der Folgezeit automatisieren sich diese Handlungsabläufe und breiten sich im Rahmen der Reizgeneralisation auch auf Situationen aus, die dem ursprünglichen Auslöser immer unähnlicher werden. Die Folge ist eine Chronifizierung der Zwänge.

Abbildung 4: Das Zwei-Faktoren-Modell von Mowrer (1947)

Die Modelle von Salkovskis und Mowrer zeigen beide die große Bedeutung von Vermeidung und Neutralisation für die Aufrechterhaltung der Zwangsstörung. Deswegen ist der Abbau von Neutralisation und Vermeidung durch wiederholte Exposition gegenüber zwangsauslösenden Befürchtungen und Situationen zentraler Bestandteil der verhaltenstherapeutischen Behandlung. Damit soll erreicht werden, dass sich der Betroffene mit den aversiven Emotionen auseinandersetzen muss. Es gibt Evidenz, dass Exposition zunächst in Begleitung und danach selbstständig durch den Patienten erfolgen muss, damit diese vom Patienten als besonders wirksam bewertet wird (Külz et al., 2015). Die Frage, ob die Expositionen im häuslichen Umfeld stattfinden müssen, damit sie besonders wirksam sind, wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Rosqvist, 2001; Rowa et al., 2007). Auch für die häufig gestellte Frage nach der Intensität und Frequenz von Expositionsübungen gibt es bisher unterschiedliche Empfehlungen. So kommen z. B. Abramowitz und...

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