Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung - Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven.

Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung - Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven.

 

 

 

von: Johannes Eurich

Campus Verlag, 2008

ISBN: 9783593385778

Sprache: Deutsch

481 Seiten, Download: 2759 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung - Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven.



1 Gerechtigkeit als Fairness – die Gerechtigkeitstheorie (S. 41)

von John Rawls

Mit der Darstellung von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wird die sozialliberale Perspektive als Bezugspunkt dieser Studie eingeführt. Dies hat seinen eigentlichen Grund in der Kompatibilität von Rawls’ Theorie mit der modernen demokratischen Gesellschaftsstruktur: Die sie auszeichnende Grundstruktur ist Ergebnis eines Entwurfs, der historisch Entstandenes mit Gerechtigkeitsgrundsätzen zu vereinbaren versucht.

So verstehen sich die Bürger moderner Demokratien als freie und gleiche moralische Subjekte, die ein Anrecht darauf haben, ihre Lebensführung selbst zu bestimmen, also ein jeder das Recht auf die Freiheit hat, sein eigenes Glück anzustreben. Mit dieser Freiheit geht die Verantwortlichkeit für das eigene Leben einher.

Rawls fasst dieses historisch gewachsene Verständnis von Freiheit als Grundlage der Implementierung von überindividuellen Regeln auf, in dem er nur solche Institutionen und überindividuelle Regeln zulässt, denen Individuen auf Grundlage ihrer eigenen wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen in rationaler Weise zustimmen können.

Es liegt hier also eine Sicht vom Menschen als freiheitsfähigem und verantwortungsbereitem Akteur vor, welche die alternative Überzeugung ausschließt, dass der Staat als sorgende Instanz sich um die Wohlfahrt seiner Bürger in bevormundender Weise kümmern sollte. Eine Herrschaft von Sozialtechnokraten wäre unvereinbar mit dem Recht auf individuelle Freiheit, weil dabei unterschwellig zugrunde gelegt würde, dass der Staat besser als der einzelne Bürger weiß, wie das Glück des Einzelnen beschaffen ist und wie sein Unglück verhindert werden kann.

Diese schablonenhafte Gegenüberstellung dient der Verdeutlichung der grundlegenden Alternative, die in der Wahl zwischen individueller Freiheit und staatlicher Fürsorge existiert, wobei offenkundig ist, dass im Sozialstaat die individuelle und die egalitäre Perspektive nicht so einseitig vertreten, sondern Vermittlungen zwischen beiden gesucht werden.

Jedoch besteht in einer liberalen Gesellschaft ein Rechtfertigungsdruck auf die öffentliche Daseinsvorsorge, aufgrund dessen die Freiheit des Einzelnen als Ausgangspunkt für Überlegungen sozialer Gerechtigkeit leitend wird: »Diese Zuweisung der Beweislast an die Apologeten der öffentlichen Daseinsvorsorge in einer liberalen Gesellschaft ergibt sich logisch aus der Tatsache, dass auch der demokratische Staat ein Herrschafts- und Zwangsinstrument ist, also mit Blick auf die Freiheit des Einzelnen ein ambivalentes Wesen.«

Denn prinzipiell besteht die Möglichkeit – und in einer pluralistischen Gesellschaft ist damit zu rechnen –, dass durch Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie politische Inhalte bestimmend werden, die den rationalen Überzeugungen Einzelner widersprechen und individuelle Freiheit einschränken. Solche politischen Regelungen können nur dadurch legitimiert werden, dass sie in einem demokratischen Verfahren erreicht werden, das von allen Individuen als gerecht beurteilt wird.

Da viele Gerechtigkeitstheorien wie auch die Rawlssche vom freiheits- und verantwortungsfähigen Individuum ausgehen, soll an dieser Stelle zunächst kurz der Begriff der individuellen Autonomie, der in dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, näher bestimmt werden. In liberaler Perspektive kommt der Autonomie des Individuums ein zentraler Stellenwert zu. Denn der kantische Personbegriff fasst den Menschen »als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft« auf. Die Autonomie des Subjekts bezieht sich wie im Urzustand bei Rawls auf die Fähigkeit einer Person, ein moralisches und rationales Urteil fällen zu können.

So beinhaltet individuelle Freiheit nach Rawls, eine »self-authenticating source of valid claims« zu sein. Dagegen wird eingewandt, dass das liberale Autonomieverständnis ein »Missverständnis menschlicher Möglichkeiten « darstelle. Autonomie sei vielmehr als ein in mehrfacher Hinsicht relationaler, auf heteronome Bestimmungsgründe personalen Seins bezogener Begriff auszuweisen. Demnach ist nicht von vollständig autonomen, sondern teilweise autonomen Personen auszugehen, wobei personale Autonomie nicht von Sozialität zu trennen ist, eine autonome Person im Kern also nicht als unabhängiges, selbstsuffizientes Selbst zu beschreiben ist.

Die damit aufgenommene Debatte um das Rawlssche Akteurs- beziehungsweise Personverständnis wird nicht nur unter Punkt 1.3.2 »Kommunitaristische Kritik« ausführlicher dargestellt, sondern bildet einen der durchgängigen Fragehorizonte dieser Studie ab. Im Blick auf Menschen mit Behinderung geht es darum, wie ihre Selbstbestimmung angesichts oftmals heteronomer Lebensumstände und bestehender Beeinträchtigungen realisiert beziehungsweise gefördert werden kann. In der Auseinandersetzung mit dieser Frage wird deutlich werden, dass das liberale Autonomieverständnis keine hinreichende Basis für Gerechtigkeitsansprüche von Menschen mit Behinderung darstellt.

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