Umgang mit Gewalt in der Psychiatrie. (Basiswissen, Band 15)

Umgang mit Gewalt in der Psychiatrie. (Basiswissen, Band 15)

 

 

 

von: Tilmann Steinert

Psychiatrie-Verlag, 2008

ISBN: 9783884147276

Sprache: Deutsch

132 Seiten, Download: 5630 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Umgang mit Gewalt in der Psychiatrie. (Basiswissen, Band 15)



Viktimisierung (S. 30-31)

»Viktimisierung« bezeichnet die Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden. Es lässt sich feststellen, dass die meisten psychischen Erkrankungen mit einem erhöhten statistischen Risiko für gewalttätiges Verhalten einhergehen. Noch wesentlich höher ist allerdings das Risiko für psychisch Erkrankte selbst, Opfer einer Gewalttat oder einer anderen Straftat zu werden. Dies liegt einerseits daran, dass viele von ihnen in sozial schwierigen Verhältnissen und angespannten Beziehungen leben. Andererseits verhalten sich viele auch sozial ungeschickt, sind relativ hilf- und wehrlos und weder in den verbalen Fähigkeiten noch in körperlicher Hinsicht wehrhaft.

Dies prädestiniert sie als potenzielle Opfer. Eine Studie aus den USA hat vor einigen Jahren mit geradezu erschreckenden Zahlen belegt, wie sehr psychisch Kranke Opfer von Gewalt und anderen Straftaten werden (Frueh u. a. 2005). Vergleichbare Untersuchungen aus Deutschland gibt es nicht. Die Erfahrung spricht aber dafür, dass auch in Deutschland in der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung vielerlei körperliche und sexuelle Übergriffe sowie Eigentumsdelikte auftreten, nicht zuletzt von anderen Klienten. Der Schutz, der den Betroffenen geboten wird, ist in aller Regel gering: Wenn die Täter selbst psychisch krank sind, wird eine Strafverfolgung in der Regel rasch eingestellt, die einzige therapeutische Intervention besteht dann zumeist darin, den Verursacher in die Klinik einzuweisen, oft nur für einige Tage.

Eine merkwürdige, für Außenstehende oft kaum zu verstehende, aber doch sehr häufige Form der Viktimisierung besteht darin, dass psychisch traumatisierte Menschen oft gerade diejenigen Traumata erneut erleiden, unter denen sie am meisten gelitten haben, und dies bei näherer Hinsicht regelrecht selbst inszenieren. Frauen, die ihre Jugend lang unter einem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater gelitten haben, machen nicht selten in mehreren aufeinander folgenden Ehen wieder dasselbe Martyrium durch. Frauen, die als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, ha ben ein statistisch deutlich erhöhtes Risiko, auch als Erwachsene Opfer einer Vergewaltigung zu werden.

Gefahren durch die psychiatrische Behandlung

Die Gefahren für psychisch Kranke, durch psychiatrische Behandlungen Gewalt erfahren zu müssen, sind schon traditionell aufgrund ihrer Geschichte und aufgrund der »Ordnungsfunktion« der Psychiatrie besonders groß. Freilich hat sich zum Glück im Laufe der Zeit einiges gewandelt. Zu Beginn der Gründung psychiatrischer Institutionen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, waren Psychiater und das damalige »Wartpersonal « in Ermangelung eines wirksamen therapeutischen Arsenals besonders erfindungsreich in der Ausübung von Zwangsmaßnahmen aller Art, die man heute ohne Übertreibung als Folter bezeichnen könnte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es »humaner«, allerdings sah man nun die Hauptaufgabe der Psychiatrie darin, Kranke in großen Anstalten zu asylieren und an der Fortpflanzung zu hindern. Im Ersten Weltkrieg erlebte die Psychiatrie eine bis dahin nicht gekannte therapeutische Experimentierfreudigkeit, und zwar an den psychisch erkrankten Soldaten, die möglichst schnell wieder »kriegsverwendungsfähig « werden sollten. Auch die damals in vermeintlich staatstragendem Interesse erprobten Therapieverfahren, die von Zwangsexerzieren über Hypnose bis zur Dunkelhaft reichten, führten teilweise sogar zu Todesfällen und würden wiederum heute zu Recht als Folter bezeichnet.

Der Höhepunkt der Gewalt gegen psychisch kranke Menschen ereignete sich freilich erst unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg. Bereits ab 1933 hatte man in Deutschland massenhaft Zwangssterilisationen durchgeführt. Die Behandlungskarteien auch der entstandenen Vorläufer der heutigen Sozialpsychiatrischen Dienste dienten dabei perfiderweise als Basis zur Erfassung des dafür vorgesehe- Geschlechtsunterschiede.

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