Handbuch Gesundheitsrecht

Handbuch Gesundheitsrecht

 

 

 

von: Ingwer Ebsen (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2015

ISBN: 9783456952468

Sprache: Deutsch

391 Seiten, Download: 3491 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Handbuch Gesundheitsrecht



Kapitel 2: Die Organisation der GKV: Versicherte, Träger und Finanzierung (S. 27-28)
Friedhelm Hase

I. Der verfassungsrechtliche Rahmen für die Organisation der GKV

1. Sozialversicherung als Vorsorge jenseits der Privatrechtssphäre

In modernen Gesellschaften, in denen Individualeinkünfte zur vorherrschenden Einkommensform geworden sind, hat der Einzelne mit seinen Mitteln für den eigenen Lebensbedarf wie für den der engsten Familienangehörigen zu sorgen, dies schließt die Vorsorge für künftigen Bedarf – gerade auch bei Krankheit und gesundheitlich bedingter Einschränkung der Erwerbsfähigkeit – ein.1 Dass die Privatperson bei der Wahrnehmung einer solchen Verantwortung für sich selbst auf zum Teil unüberwindliche Grenzen stößt, hat sich zunächst vor allem in der Situation derjenigen abgezeichnet, die den Unterhalt aus den Erträgen abhängiger, fremdbestimmter Arbeit bestreiten.2 Dies hat die staatliche Rechtsetzung auf den Plan gerufen, mit dem «Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter» vom 15. Juni 1883 ist in Deutschland das – weltweit – erste Sozialversicherungssystem geschaffen worden. Aus Vorkehrungen zum Schutz eines begrenzten, in den privatrechtlich verfügbaren Formen nicht hinreichend abgesicherten Bevölkerungsteils sind Institutionen hervorgegangen, die auf gesellschaftlichem Niveau die Maßstäbe der Absicherung gesundheitlicher Risiken bestimmen. Dabei ist die GKV eine Einrichtung geblieben, die mit ihrer Struktur und den Grundbegriffen ihres Rechts auf die Belange Erwerbstätiger, zumal Beschäftigter bezogen ist. Widersprüche zwischen vielfältigen Verallgemeinerungstendenzen und der Ausrichtung des Systems an der besonderen Lage – abhängig – Arbeitender sind in der Rechts- entwicklung der vergangenen Jahrzehnte wirksam geworden, das Konzept der sozialen Vorsorge hat in mancher Hinsicht an Eindeutigkeit verloren. Zum Teil wird verkannt, dass auch die GKV (und Entsprechendes gilt für die übrigen Sozialversicherungssysteme) auf der Eigenverantwortung der Privatperson, nicht auf einer umfassenden öffentlichen Sorge für den Einzelnen beruht: Die Vorsor- ge für den Krankheitsfall, die an sich von jedem zu erwarten ist, wird auf eine verbindliche öffentlich-rechtliche Form «umgestellt». Schutzbedürftigen Personen werden Absicherungsmöglichkeiten jenseits der privaten Sphäre erschlossen, die mit dem Versicherungsschutz verbundenen Lasten sind aber beivon ihnen selbst, bei Beschäftigten darüber hinaus vom Arbeitgeber zu tragen.

Den Versicherten der GKV wird eine außerordentlich vorteilhafte, aber auch durch Freiheitseinschränkungen und Verpflichtungen bestimmte öffentlich-rechtliche Stellung zugewiesen. Die Krankenversicherungsträger sind Kassen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 4 Abs. 1 SGB V, § 29 Abs.SGB IV) nach gesetzlichen Vorgaben öffentliche Aufgaben erfüllen; Versicherungspflichtige und freiwillig Versicherte sind mitgliedschaftlich in die Verwaltungsorganisation eingebunden. Privatrechtliche Regeln und Bewertungskriterien des Marktes sind in den Beziehungen zwischen Versicherten und Krankenkassen ausgeschaltet, das Versicherungsverhältnis wird von Grundsätzen eines umfassenden sozialen Ausgleichs beherrscht:3 Jedem Versicherten wird ohne Rücksicht auf Art und Ausmaß seiner gesundheitlichen Belastungen und unabhängig von der Höhe seiner Einkünfte für den Krankheitsfall eine – im Grundsatz umfassende – Versorgung auf dem jeweiligen Stand des gesellschaftlich Möglichen garantiert. Diesem «Wunder der Sozialversicherung» liegt unwiderstehlicher staatlicher Rechtszwang zugrunde. Sozialversicherung ist wesentlich Pflichtversicherung,4 die meisten Versicherten sind kraft Gesetzes an die GKV gebunden. Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsverhältnis sind fast vollständig normativ vorgegeben, die Beitragslasten, die von Versicherten und Arbeitgebern zu tragen sind, werden einseitig durch öffentliches Recht festgelegt. Solche Freiheitseinschränkungen sind als der Preis zu sehen, der für die Erzeugung einer existenziell benötigten, durch privatautonome Gestaltungen aber nicht erreichbaren Sicherheit entrichtet werden muss.

2. Versicherungs- und Beitragspflichten: zwischen Freiheitseingriff und Freiheitsentfaltung

Verfassungsrechtlich sind die aus dem sozialversicherungsrechtlichen Regelwerk erwachsenden Lasten und Beschränkungen individueller Autonomie nach vorherrschender Auffassung und höchstrichterlicher Rechtsprechung vor allem an dem Grundrecht aus Art. 2 Abs.GG zu messen.5 Die Versicherungspflicht schränkt danach die (nur den privaten Sektor betreffende) Vereinigungsfreiheit nicht ein,6 soweit sie an die Ausübung von Erwerbsarbeit anknüpft, soll das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht beeinträchtigt sein,7 durch Beitragspflichten wird, weil sie nur zu einer Vermögensminderung führen, das verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum nicht berührt.

Fragen des Grundrechtseingriffs und seiner Rechtfertigung führen in überaus wichtige, dogmatisch eher vernachlässigte Probleme hinein, die sich aus der eigenartigen Ambivalenz des Sozialversicherungsrechts, seiner Nähe zu dem heiklen Gedanken fürsorglichen öffentlichen Zwangs ergeben. Durch die Einordnung in einen öffentlich-rechtlichen Organisationszusammenhang wird die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen beschnitten, um ihm die Teilhabe an der sozial erreichbaren Sicherheit – als Vorbedingung und Grundlage realer individueller Entfaltungsfreiheit – zu eröffnen.

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