Öffentliche Religionspädagogik - Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten

Öffentliche Religionspädagogik - Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten

 

 

 

von: Bernhard Grümme, Rita Burrichter, Bernhard Grümme, Hans Mendl, Manfred L. Pirner, Martin Rothgangel, Thomas Schlag

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170289239

Sprache: Deutsch

334 Seiten, Download: 3224 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Öffentliche Religionspädagogik - Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten



1.          Denkformen als Bewährungsort für die Pluralitätsfähigkeit der Religionspädagogik


1.1        Pluralitätsfähigkeit als religionspädagogische Herausforderung


„Diskurse über Mensch, Macht und Kultur verzweigen ich rhizomartig zu Diskursen über Diskurse über Mensch, Macht und Kultur. Und so entsteht ein endloses Wortgeflecht, das alle Kunstproduktionen überzieht wie der Schleim eines antlitzlosen Aliens, das viele Peripherien, aber kein Zentrum hat. Kein Wunder, nichts hat ein Antlitz, Netzwerke haben keine Physiognomie. Stattdessen sind sie offen. Du kannst dich über tausend und abertausend Konzeptknötchen und Reflexionsbrücken hinwegbewegen, nach dahin und dorthin, und am Ende wird es nur aus purer Erschöpfung zu Ende sein, aus Energieverlust oder Ekel über die Monotonie der Vielfalt, die, vielfach kodiert, nichts bedeutet“ (Strasser 2010, 40f.). Pluralität als Langeweile? Kunst nur noch als leeres Gerede, als inhaltsloses Geschwätz, wo diese doch nach dem Ende der Metaphysik als der verbliebene Ort von Transzendenz gegolten hatte? Diskurse haben in der Bewertung von Peter Strasser ihre sinnstiftende und semantisch gehaltvolle Orientierung verloren. Was bleibt ist ein nichtssagendes, ebenso affirmatives wie sehnsuchtsloses Kreisen um sich selbst, womit für Strasser die selbstdestruktiven Aspekte der Aufklärung herausgearbeitet sind, in denen diese ihre eigenen Postulate verspielt (Strasser 2010, 16). Anders jedoch als deren Verächter will er im Durchgang durch die Pluralisierungsprozesse der Moderne den Wahrheitsgehalt von Aufklärung zurückgewinnen. Denn nur um den Preis eines vormodernen Regresses und gewaltförmiger Operationen könne hinter jene Pluralisierungsphänomene wie Biografisierung, Deinstitutionalisierung, Enttraditionalisierung, Globalisierung und Ausfaltung divergierender Praxis- und Rationalitätsformen zurückgegangen werden, die mit dem Ende der „Großen Erzählungen“ selbst den Begriff von Wahrheit erfasst haben. Wie das eindrucksvolle Werk Charles Taylors zeigt, betrifft dies auch den Begriff der Moderne, insofern Taylor im Rückgang auf Shmuel Eisenstadt mit vervielfältigten, multiplen Modernitäten rechnet und doch universalisierbare Wahrheitsansprüche erhebt (Taylor 2009, 47).

Gleichwohl darf der Gewinn an emanzipatorischer Freiheit und Selbstbestimmung nicht negiert werden. Pluralisierung bedeutet im Wesentlichen immer auch die Freisetzung aus unausgewiesenen Entfremdungszusammenhängen. Verschiedenheit darf nicht je schon als Bedrohung, sondern darf als Bereicherung aufgefasst werden.

Wie man auch immer diese Pluralisierungsprozesse terminologisch fassen möchte − sei es als „Reflexive Modernisierung“, als „Zweite Moderne“, als „radikalisierte Moderne“, als „Postmoderne“: Es kommt darauf an, die enormen unhintergehbaren Freiheits- und Identitätsgewinne mit einem erhöhten Anspruch an die Subjekte zusammenzudenken, sich inmitten ihrer Unbehaustheit durch ungefragt gültige Sinn- und Orientierungszusammenhänge je neu verstehen und handlungsfähig werden zu müssen. Eine rein resignative wie defizitorientierte Hermeneutik des pluralistischen Gegenwartskontextes verbietet sich ebenso wie dessen euphorische Affirmation. Pluralität stellt Herausforderung wie Chance dar. Wie es um der Universalisierbarkeit von Wahrheit und Freiheit willen darauf ankäme, an der „Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ festzuhalten (Habermas 1992, 153), wie es identitätstheoretisch wichtig wäre, jenseits eines ungeschichtlich essentialistischen Identitätsbegriffs einerseits und der Absage an menschliche Identität im posthistoire andererseits an der Möglichkeit eines Identitätsbegriffs festzuhalten (Englert 2005, 14), wie es darauf ankäme, unter den Bedingungen der Posttraditionalität den semantischen Gehalt von Traditionen und deren Autorität nicht-traditionalistisch zu sichern (Englert 2007, 81−121), so wäre es nun auf einer grundlagentheoretischen Ebene entscheidend, Differenz und Einheit, Alterität und Identität, das Fremde und das Eigene denkerisch zu vermitteln. Eine ideologiekritische, für politisch-strukturelle Momente sensible Reflexion hätte freilich diese Pluralitätsfrage auf die Frage nach der Fremdheit der Anderen, nach den ausgeschlossenen, den leidenden Anderen und den wie verdeckt und verbrämt auch immer herrschenden Exklusionsmechanismen auszuweiten (Grümme 2009).

Dies gilt ungeachtet des unausgestandenen religionssoziologischen Forschungsstreits zwischen Säkularisierungstheoretikern und Pluralisierungstheoretikern nicht zuletzt für die Religion, die in besonderer Weise durch die Pluralisierungsprozesse betroffen ist. Neben einem gesellschaftlich wie kulturell immer stärker in Erscheinung tretenden Plural der Religionen umfasst dies auch die Pluralität innerhalb des Christentums, innerhalb der Konfessionen wie in dem Auseinandertreten von kulturellem, kirchlichem und individuellem Christentum (Ziebertz 2010, 84ff.). Die pluralistische Infragestellung eines universalen Wahrheitsanspruchs verschärft sich angesichts des Absolutheitsanspruchs, wie er der jüdisch-christlichen Gottesrede innewohnt, obschon andererseits Pluralisierungsprozesse durchaus in der Logik der christlichen Botschaft liegen.

Die Religionspädagogik sieht sich angesichts dessen herausgefordert, ihre Hermeneutik und Methodik einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen, um zu prüfen, inwieweit der reflexiv-praktische wie konzeptionelle Umgang mit Pluralität „in die propriale Grundlegung der Religionspädagogik Eingang gefunden“ hat (Wunderlich 1997, 95). Weil eben gerade nicht alles gleich-gültig ist, ist eine Religionspädagogik dann pluralitätsfähig, wenn sie die Pluralität „pluralistisch“ bearbeitet, d.h. „Pluralität als Pluralismus zu entwickeln“ hilft (Ziebertz 2010, 85). Weder ist Pluralität in eine Einheit aufzuheben noch ist sie in relativierender Beliebigkeit uneingeschränkt zu affirmieren. Sie ist vielmehr qualitativ zu entwickeln und zu gestalten. Eine pluralitätsfähige Religionspädagogik setzt sich so die Anbahnung einer kritisch reflektierten religiösen und weltanschaulichen Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler inmitten des Pluralismus zum Ziel. „Jugendliche sollen Differenz wahrnehmen, verstehen und beurteilen lernen und über den Prozess der Auseinandersetzung ihre eigene Position festigen (oder revidieren) können“ (Ziebertz 2002, 67).

Angesichts der genannten Doppelgesichtigkeit des Pluralismus bedarf eine pluralitätsfähige Religionspädagogik jedoch eines hermeneutischen Zugriffs, der Pluralität nicht mit Indifferenz identifiziert, sondern als Gleichzeitigkeit differierender Werte, Normen, Welt- und Glaubenseinstellungen versteht, in denen keine innergeschichtliche Instanz Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit erheben darf, ohne die Universalisierbarkeit vernünftiger Rede zu dementieren. Gerade darin dokumentiert sich die bildungstheoretische Triftigkeit pluralitätsfähiger Religionspädagogik, insofern Bildung „Bewusstsein von Differenz“ ist (Peukert 1984, 134), weil es in ihr letztlich um die „Wahrnehmung und Anerkennung des anderen“ geht (Peukert 1994, 11). Pluralitätsfähige Religionspädagogik setzt sich im Medium der Kommunikation die Generierung handlungsfähiger Subjekte im Sinne von Einheits- und Differenzkompetenz zum Ziel.

1.2        Denkformen


Doch wie ist der Umgang mit Fremdheit, Identität und Differenz innerhalb der Religionspädagogik genauer zu denken? Welche Stile, welche Axiomatiken finden sich, auf deren grundlagentheoretischer Ebene wesentlich bestimmt wird, ob und inwiefern Pluralitätsfähigkeit gegeben ist? Denn wie die Religionspädagogik jeweils definiert wird, hängt bereits „in hohem Maße von der jeweiligen theoretischen Position und Zugangsweise“ oder von der jeweiligen Denkform ab (Schweitzer 1996, 145). Damit ist eine Dimension gemeint, die eine Theoriebildung, deren Kategorien und Form, strukturell prägt, ohne unvermittelt und direkt in Erscheinung zu treten (Grümme 2004, 266−279). Von ihrem wissenschaftstheoretischen Status her gesehen wären solche Überlegungen auf der Ebene einer fundamental-theologischen Grundlagentheorie einzuordnen. Eine Theorie dieser Reichweite „hat die Aufgabe, den Sinn religiöser Erziehung und Bildung im Gesamtzusammenhang individuellen und gesellschaftlichen Lebens...

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