Aggression bei Kindern - Praxiskompetenz für Erzieherinnen

Aggression bei Kindern - Praxiskompetenz für Erzieherinnen

 

 

 

von: Gabriele Haug-Schnabel

Verlag Herder GmbH, 2015

ISBN: 9783451804731

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1204 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Aggression bei Kindern - Praxiskompetenz für Erzieherinnen



1.3 Das Thema Aggression lässt neuerdings aufhorchen


In der Januarausgabe des Polizei-Newsletters 2008, der vom Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Universität Bochum (Prof. Dr. Thomas Feltes) sowie der TeamConsult, Genf/​Zürich und Freiburg i. Br. herausgegeben wird, finden sich Hintergrundinformationen zu einer folgenschweren Zeitungsmeldung: Unter dem Titel „Jugendgewalt nimmt zu: ‚Die Welt‘ schreibt‘s – und alle schreiben ab“ findet sich im Newsletter folgender Hinweis:

„Stein des Anstoßes der jüngsten Mediendebatte zum Thema Jugendgewalt ist ein Artikel der Tageszeitung ‚Welt am Sonntag. Mit dem Verweis auf eine ‚Studie, die der Redaktion ‚vorliegt, wird dort der Anstieg der Jugendgewalt beklagt. Dass es sich bei der ‚Studie um einen von fünf Bundesländern erstellten Lagebericht für die diesjährige Innenministerkonferenz (IMK) handelt, der für jedermann zugänglich im Internet ‚vorliegt, hindert andere Zeitungen nicht, von der ‚Welt abzuschreiben, ohne einen Blick auf die Primärquelle zu werfen. Dort liest man zwar, dass die PKS einen Anstieg der Fallzahlen für Jugendgewalt aufweist. Gleichzeitig verschweigt der IMK-Bericht aber nicht, dass die kriminologische Dunkelfeldforschung einen tatsächlichen Anstieg nicht bestätigen kann und dass auf dieser Grundlage eben keine gesicherten Erkenntnisse möglich sind.“

 

Im Original des IMK-Berichtes liest sich das so: „Die Ergebnisse der kriminologischen Forschung zur Entwicklung der Jugendgewaltkriminalität führen allerdings zu einem anderen Ergebnis. Ausgehend von regionalen Dunkelfeldstudien unter bestimmten Altersgruppen, die in der Regel an Schulen befragt wurden, und ergänzenden Begleitstatistiken z. B. der gesetzlichen Unfallversicherung vertritt die kriminologische Forschung heute die Auffassung, dass die tatsächliche Gewaltkriminalität im Jugendbereich weder quantitativ noch qualitativ angestiegen sei. Vielmehr bewege sich die Zahl der tatsächlichen Delikte auf einem relativ konstanten Niveau.“

Das Fazit des IMK-Berichtes lautet demzufolge entgegen der Darstellung in „Die Welt“:

„Es sind derzeit keine gesicherten Aussagen zu den Fragen möglich, ob die Jugendgewaltkriminalität in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg zeigt oder nicht und wie sich dieser Phänomenbereich zukünftig entwickeln wird.“

Zudem wird im Polizei-Newsletter darauf hingewiesen, dass die schlecht recherchierte Meldung der „Welt“ in der Praxis nicht folgenlos zu bleiben scheint. Auf jener Fehlinformation aufbauend, reagieren Politiker und Kommentatoren mit einer erneuten Forderung zur Verschärfung des Strafrechts, während der IMK-Bericht auf Grundlage kriminologischer Forschung dagegen klar aussagt, dass Ursachen von Jugendgewalt in sozialen und schulischen Faktoren zu suchen und in diesem Bereich auch zu lösen sind. Demzufolge fordert die IMK-Arbeitsgruppe auch, zunächst das Bild der Lage innerhalb der Bundesländer zu vervollständigen.

Dieser Schritt ist deutlich angemessener, als aktionistisch Maßnahmen zu ergreifen, die sich möglicherweise sogar als kontraproduktiv erweisen. … Die Wirkungslosigkeit von zahlreichen der aktuell politisch propagierten Maßnahmen ist seit Jahren bewiesen. Einige führen sogar nach den Ergebnissen von Studien zu einem Anwachsen der Problematik. Politik und Kommentatoren sind daher gut beraten, zunächst einmal mit Fachleuten zu sprechen, statt durch fahrlässige Aussagen Gefahren zu schaffen (Institut für Kriminologie und Gewaltprävention 2008).

 

Das Thema Aggression bewegt viele – vor allem, wenn es sich um Taten von Kindern und Jugendlichen handelt. Am meisten diskutiert wird die Frage: Wie groß ist das Problem Aggression wirklich? Hat die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu den Ergebnissen älterer Untersuchungen zugenommen?

Wäre dem so, dann müsste dieses Ergebnis – den Tenor einschlägiger Veröffentlichungen aufgreifend – als beunruhigender bewertet werden, als wenn die Zahlen auf bereits bekannter Höhe geblieben wären. Und es müsste – der öffentlichen Meinung folgend – früher, schneller und vor allem strenger gehandelt und Einhalt geboten werden. Aber muss das Thema Aggression wirklich nur dann richtig ernstgenommen werden, wenn eine massive Zunahme aggressiver Akte stattgefunden hätte? Leider scheint es nicht Anreiz genug, bereits nach Veränderungen und echten Lösungen zu suchen, wenn schon jetzt deutlich sichtbar wird, dass Täter und Opfer unter starken Aggressionen leiden und in ihren Entwicklungsverläufen mit massiven Beeinträchtigungen zu rechnen haben.

Doch nochmals zurück zur Frage: Hat die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen? Die von den Medien präsentierten Fallbeispiele legen eine unheilvolle Entwicklung nahe. Jeder Gewaltzwischenfall ist besorgniserregend und zwingt zum Handeln – akut wie vor allem präventiv.

In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Quellen, die den jeweiligen Aussagen zugrunde liegen, interessant. Ist die Quelle für diese Zahlenangaben z. B. die polizeiliche Kriminalstatistik, so beruht sie auf Tatverdächtigen, nicht auf Tätern. Würden zum Beispiel „nur“ die Verurteilten herangezogen werden, sähen die Zahlen weniger dramatisch aus. Allein diese Besonderheit erklärt schon einen Teil der veröffentlichten „Fall-Zunahmen“ der letzen Jahre, da früher fast ausschließlich Verurteilungen als Quelle herangezogen wurden.

Weitere beachtenswerte Zusammenhänge sollten bekannt sein, wenn mit diesen Zahlen wirklich argumentierten werden soll: Zu jedem aggressiven Akt gibt es eine Bewertung durch die Umwelt. Diese kann in ihren Konsequenzen für Täter und Opfer entscheidender sein als die Aktion selbst und als deren direkte Konsequenzen. Es muss also, um eine realistische Einschätzung der Situation zu bekommen, auch gefragt werden, ob sich eventuell nicht die Aggressionen, quantitativ und qualitativ, verändert haben, sondern die Bewertung von aggressiven Akten durch die Gesellschaft. Die Berichte der Massenmedien tragen zu einer allgemeinen Sensibilisierung bei. Sie schüren Ängste vor unkontrollierter Gewalt und damit auch die Bereitschaft zur aggressiven Gegenwehr. So kann die Tatsache, dass heute ein Fehlverhalten schneller als früher bei der Polizei angezeigt wird, als eine Art aggressiver Gegenwehr der Bevölkerung verstanden werden. Eindeutig ist: Wir werden zunehmend sensibler, wenn es um heftige und wiederholte Aggressionen von Kindern und Jugendlichen geht, die sich gegen ihre eigene Altersgruppe oder sogar gegen Ältere richten. Verhaltensweisen, die noch vor wenigen Jahren als üblich hingenommen oder als Mutprobe und Hörnerabstoßen im Bereich von Ritualen abgebucht worden wären, werden nicht mehr akzeptiert. Wir sind empfindlicher geworden, da wir mehr über Risiko- und Signalverhalten wissen und deren Konsequenzen nicht mehr als gegeben hinnehmen wollen.

 

Hat die Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich zugenommen?

Das Ausmaß des Anstiegs von Kinder- und Jugendgewalt ist unbekannt. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine kontinuierliche Zunahme gibt. Selbst wenn es einen Anstieg geben sollte, ist er nach den vorliegenden Indizien keineswegs so hoch und dramatisch, wie es die öffentliche Meinung suggeriert. Die gängigen Übertreibungen müssen wieder zurückgedreht werden, um eine vernünftige Basis für...

Kategorien

Service

Info/Kontakt

  Info
Hier gelangen Sie wieder zum Online-Auftritt Ihrer Bibliothek