Migration und Behinderung

Migration und Behinderung

 

 

 

von: Julia Halfmann, Werner Schlummer, Karin Terfloth

Kohlhammer Verlag, 2014

ISBN: 9783170252349

Sprache: Deutsch

143 Seiten, Download: 3088 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Migration und Behinderung



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Einleitung


 

 

»Wir behandeln alle gleich!« Diese Einstellung ist in sozialen Einrichtungen weit verbreitet und erweckt – angesichts des Postulats der Gleichheit – den Anschein gerechten und moralisch unangreifbaren Handelns auch in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Schröer 2005). Sie soll zumeist als Ausdruck einer kritischen Stellungnahme in Bezug auf Interkulturalität verstanden werden, nach der Menschen mit Migrationshintergrund eben nicht in Anbetracht ihrer nationalen und kulturellen Herkunft eine gesonderte Betrachtung und Behandlung erfahren. Eine solche Stellungnahme resultiert vielfach aus Sorge, den Eindruck zu erwecken, Menschen auf ihre Ethnizität zu reduzieren und damit zu diskriminieren oder, im Gegenteil, ihnen eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen. So gut dies auch gemeint ist, werden dadurch jedoch bestehende kulturelle Unterschiede ignoriert und die Lebenswirklichkeit einzelner Personen und ihrer Familien verkannt.

Andererseits findet oftmals eine Überbetonung kultureller Unterschiede statt. Alltägliche (Problem-)Situationen im Kontakt zu Personen mit Migrationshintergrund werden vorschnell über kulturelle Zuschreibungen in Bezug auf das Herkunftsland bzw. die Herkunftskultur der Familien gedeutet und erklärt. Dies geschieht unter Bezugnahme auf – in sehr unterschiedlichem Maße vorhandenes – kulturspezifisches Wissen. Ein verengter Blick auf die Kultur birgt jedoch die Gefahr einer vorurteilsbehafteten Sichtweise in sich, die darüber hinaus oftmals mit bestimmten Erwartungshaltungen und entsprechenden Verhaltensmustern einhergeht. Diese beiden – wohlgemerkt extremen – Pole zeigen zu Beginn des Buches in plakativer Weise die verschiedenen Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund in sozialen Institutionen auf, die in einem breiten Spektrum vorzufinden sind.

Die Migrationsprozesse der letzten 50 Jahre haben innerhalb Deutschlands zur Entstehung einer kulturellen Vielfalt geführt und damit zur Veränderung der Bevölkerungsstruktur beigetragen. Durch diesen Veränderungsprozess wurden gesellschaftliche und bildungspolitische Debatten angestoßen, infolge derer grundlegende Reformen in öffentlichen Bereichen verlangt wurden und werden. Diese müssen durch wissenschaftliche Forschung begleitet werden. So hat sich der Themenschwerpunkt Migration als bedeutungsvoller Zweig vieler Humanwissenschaften etabliert. In der Heil- und Sonderpädagogik, genauer gesagt der Geistig- und Schwerbehindertenpädagogik, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, hat die Thematik bis heute jedoch wenig Relevanz.

Die Heil- und Sonderpädagogik hat die Aufgabe, sich dieser gesellschaftlichen Herausforderung zu stellen. Um den im Grundgesetz verankerten und im SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – detailliert festgelegten Rechtsansprüchen sowie den Leitprinzipien der Inklusion Rechnung zu tragen, muss sich die Heil- und Sonderpädagogik im Hinblick auf aktuelle gesellschafts- und bildungspolitische Entwicklungen stets selbst hinterfragen. Hierzu zählt gegenwärtig auch die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Migration und Behinderung.

Für Personen mit einer geistigen und/oder schweren bzw. Komplexen Behinderung (vgl. Fornefeld 2008) ist es oftmals gang und gäbe, dass die Behinderung vom sozialen Umfeld als ›Dreh- und Angelpunkt‹ ihres Lebens angesehen wird. An ihr orientieren sich nahezu sämtliche Überlegungen für die Gestaltung der Lebensbereiche Wohnen, Schule, Arbeit, Freizeit etc. sowie im Kontext dessen erforderliche Unterstützungs-, Förder- und Bildungsbedarfe. Der biografische Hintergrund, wie bspw. die Erfahrung von Migration, gerät dabei oftmals aus dem Blickfeld der pädagogischen Profession. Die Lebenswelt von Migranten mit Behinderung und deren Familien findet bislang nur wenig öffentliches Interesse und auch aus wissenschaftlicher Perspektive fehlt es noch immer an fundiertem empirischem Wissen zur Alltagssituation des Personenkreises (vgl. hierzu u. a. Fornefeld 2007a, 184; Halfmann 2012; Kohan 2012, 7; Wansing/Westphal 2012, 12). Die unzureichenden Kenntnisse über das Phänomen Migration und Behinderung gehen anscheinend einher mit einem Mangel an notwendigen adäquaten Maßnahmen, um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Denn: Obwohl für die letzten Jahre eine insgesamt positive Entwicklung bis in die Spitzen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung und der Wohlfahrtsverbände zu konstatieren ist, die die Interkulturelle Öffnung zunehmend als Querschnittsaufgabe sozialer Dienste und Einrichtungen erachten, wird für die Institutionen der Behindertenhilfe (mit Ausnahme der Förderschulen) vielfach auf eine Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund hingewiesen (vgl. u. a. Hohmeier 2003, 26; Seifert 2010, 249).

In verschiedenen Gesprächen mit Eltern mit Migrationshintergrund und Fachleuten der Behindertenhilfe – auf unterschiedlichen Tagungen, themenbezogenen Arbeitstreffen etc. – wurde deutlich, dass in Bezug auf den Umgang miteinander auf beiden Seiten häufig ein hohes Maß an Unsicherheit und ein Gefühl des Missverstehens festzustellen sind. Aus Perspektive der Fachleute werden häufig zunächst Kommunikationsprobleme aufgrund geringer Kenntnisse der deutschen Sprache bei den Eltern angeführt. Darüber hinaus wird auf unterschiedliche kulturell geprägte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erklärungsmuster bspw. in Bezug auf Behinderung hingewiesen sowie auf differente Bewältigungsmuster und Umgangsformen. Diese wiederum sind mit divergenten gegenseitigen Erwartungshaltungen verknüpft.

Behindertenhilfe

Die Bezeichnung Behindertenhilfe fungiert als Oberbegriff für das mittlerweile breit ausdifferenzierte Angebot der sozialrechtlich verankerten und institutionalisierten Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen Lebenssituationen und über die gesamte Lebensspanne hinweg (vgl. Loeken/Windisch 2013).

Ziel des Buches ist es, auf das Themenfeld Migration und Behinderung aufmerksam zu machen und Fachkräfte für dieses zu sensibilisieren und zu professionalisieren. Hierzu wird zunächst ein erster allgemeiner Überblick über die Thematik und die bisherigen Diskussionen gegeben, es werden thematisch relevante Einführungen und Definitionen vorgenommen, themenspezifische Schwerpunkte aufgezeigt und erste Forschungsergebnisse dargestellt. Im Anschluss daran wurde – als eine erste Herangehensweise an die Thematik – ein Forschungszugang gewählt, der den Lebensweltbezug fokussiert und somit die Perspektive betroffener Familien in den Vordergrund stellt. Dieser Zugang soll der folgenden Annahme Rechnung tragen: Für die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund und einem Kind mit Behinderung bzw. zur Entwicklung angemessener Praxiskonzepte erscheint es notwendig, die Lebenswelt der Familien insoweit zu verstehen, dass Relevanzsetzungen und Bedarfe erfasst und Belastungen und Ressourcen als solche erkannt werden. Dies zu verdeutlichen, ist ein wesentlicher Anspruch des Buches. Im Vordergrund stehen dabei Familien mit einem Kind mit geistiger und/oder schwerer bzw. Komplexer Behinderung.

Für die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und Behinderung muss eine Vielfalt von Disziplinen und Forschungsansätzen zur Kenntnis genommen werden. Das vorliegende Buch bewegt sich insbesondere im wissenschaftlichen Bezugsrahmen von Heilpädagogik und Soziologie und tangiert darüber hinaus weitere (Teil-)Disziplinen wie Kulturwissenschaft, Migrationsforschung, internationale und vergleichende Heil- und Sonderpädagogik, verstehende Sozialforschung, phänomenologische Soziologie (Lebensweltansatz) und Biografieforschung. Aus den genannten anteiligen Disziplinen – und über diese hinaus – ergeben sich zahlreiche interessante Möglichkeiten einer interdisziplinären Vernetzung mit verschiedenen theoretischen und methodischen Zugängen zum Gegenstandsbereich. Hier gibt es besonders auch in sozialpädagogischen Traditionen bzw. im Bereich der Sozialen Arbeit schon seit langem bestehende theoretische Fundierungen – etwa im Kontext von Prävention und Intervention –, bei denen neben der Auseinandersetzung mit politischen Zielsetzungen besonders auch gesellschaftstheoretische Konzepte und Analysen – über sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden hinaus – entstanden sind. »Hier sind besonders das Lebensweisen-/Lebensstilkonzept, die Theorie sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung, der aus der phänomenologischen Tradition der Soziologie stammende Lebensweltansatz und kommunikationstheoretische Ansätze zu nennen« (Kardorff 1995, 9). Diese bestehende Vielfalt kann im vorliegenden Buch nicht berücksichtigt werden; besonders wird auf den Lebensweltansatz zurückgegriffen.

Das Buch soll als eine Einführung verstanden werden. Es bietet Fachkräften aus...

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