Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung

Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung

 

 

 

von: Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich

Ernst Reinhardt Verlag, 2014

ISBN: 9783497601714

Sprache: Deutsch

230 Seiten, Download: 1406 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung



1 Was ist ein Trauma?


Nicht nur in der gegenwärtigen Fachsprache der Pädagogik und Psychologie ist Trauma ein zunehmend häufig verwendeter Begriff. Auch alltagssprachlich wird er oft inflationär genutzt. Sätze wie „Die Mathearbeit gestern war voll das Trauma!“ oder „Unser letzter Urlaub war wirklich traumatisch!“ werden zum Ausdruck gebracht, um dem Gegenüber die Dramatik oder Schwere einer Situation zu verdeutlichen. Hierbei handelt es sich jedoch normalerweise um Situationen, die vom Erzählenden zwar als besonders konflikthaft, ärgerlich oder belastend wahrgenommen wurden, jedoch weder im Ereignis noch in seinen Folgen dem fachlichen Verständnis des Traumabegriffs entsprechen. Problematisch bei dieser umgangssprachlichen Begriffsverwendung ist gerade aus Sicht traumatisierter Menschen die Bagatellisierung dessen, was in ihrem eigenen Leben in höchstem Maße zu Zerrüttung mit häufig langfristigen bis lebenslangen Folgen geführt hat.

Ursprünglich kommt der Traumabegriff aus dem Altgriechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Während sich diese Verwundung im medizinischen Feld zunächst auf eine Schädigung des Körpers bezieht, bezeichnet sie in der Psychologie die Verletzung der menschlichen Psyche, das sogenannte Psychotrauma.

Im klinischen Kontext wird das Traumaverständnis erst einmal über das ICD 10 (WHO/Internationale Klassifikation von Krankheiten) und das DSM-IV (US-amerikanisches – international genutztes – diagnostisches Handbuch für psychische Krankheiten) definiert.

So versteht das ICD 10 Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaßes (kurz oder langhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (WHO 2000, 169). Auffällig ist, dass in dieser Definition Trauma ausschließlich auf das Ereignis bezogen wird, während die Begriffsbestimmung des Traumas als Wunde ursprünglich deutlicher auf die Bedeutung und Folgen für den Betroffenen hinweist. In diesem Punkt wird das DSM-IV deutlicher, indem es Trauma definiert als potenzielle oder reale Todesbedrohung, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder bei anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagiert wird (Amer­ican Psychiatric Association 1996). Beide Definitionen werden in der modernen Traumaliteratur zwar als leitend aufgegriffen, aber entlang aktueller Forschungen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychotraumatologie von führenden FachkollegInnen erweitert und modifiziert. Entsprechend beziehen wir uns im weiteren Verlauf des Buches vor allem auf die nachfolgenden definitorischen Aspekte.

Der Psychiater und Traumaexperte Lutz Besser bezeichnet Traumata als „plötzliche oder langanhaltende oder auch sich wieder­holende objektiv und subjektiv existenziell bedrohliche und auswegslose Ereignisse, bei denen Menschen in die Schutzlosigkeit der ‚Traumatischen Zange‘ geraten“ (Besser 2011, 22). Diese Definition verdeutlicht, dass ein Trauma sich aus der Korrelation objektiver Faktoren und subjektiver Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsaspekte zusammensetzt. Mit einer deutlichen Akzentuierung auf die traumatische Erfahrung erläutern Fischer und Riedesser in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie das psychische Trauma als „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer / Riedesser 2009, 84).

In Abgrenzung zu schweren oder belastenden Lebensereignissen kann eine traumatische Situation von dem betroffenen Menschen hiernach nicht mehr im Rahmen seiner üblichen Anpassungs- und Bewältigungsstrategien gelöst werden, sondern stellt für ihn ein Ereignis oder eine (Lebens)situation dar, die – von absoluter Unabsehbarkeit, Heftigkeit und Ausweglosigkeit geprägt – das üb­liche Selbstwirksamkeits- und Verarbeitungsvermögen außer Kraft setzt. Der menschliche Organismus hat in diesen Situationen nur die Wahl, auf diejenigen genetisch determinierten Notprogramme umzuschalten, die dem Überleben dienen. Das Auslösen und Aktivieren dieser Notprogramme bleibt jedoch häufig nicht ohne Folge und führt zu langfristigen Störungen in der neuronalen Hirnstruktur. Gerald Hüther, einer der führenden deutschen Hirnforscher, definiert Trauma entsprechend als

„eine plötzlich auftretende Störung der inneren Struktur und Organisation des Gehirns, die so massiv ist, dass es in Folge dieser Störung zu nachhaltigen Veränderungen der von dieser Person bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten neuronalen Verschaltung und der von diesen Verschaltungen ausgehenden und gesteuerten Leistungen des Gehirns kommt. Eine solche Traumatisierung kann durch physische oder psychische (psychosoziale) Einwirkungen ausgelöst werden“ (Hüther 2002, 29).

Diese Erkenntnisse der neuen Hirnforschung heben die hirnorganische Bedeutung des Themas hervor und verdeutlichen, dass ein biografisch erlebtes Trauma nicht einfach vorbei geht, sondern neuronal verankert in uns liegt und so seine Spuren tief und weit in der Persönlichkeitsentwicklung hinterlässt.

1.1 Psychobiologische Reaktionen auf ein Trauma


Die traumatische Zange


Das Spezifische an einem traumatischen Ereignis oder einer traumatischen Situation ist also, dass die normalen psychischen Ver­arbeitungsmöglichkeiten, die ein Mensch bis hierher für sich erworben hat, vollständig überstiegen werden. Bettina Bonus bezeichnet ein Trauma entsprechend als ein „Erlebnis, das größer ist man als selbst“ (Bonus 2006, 33). Um mit dieser Größenordnung äußerer Bedingungen fertig zu werden, muss das Gehirn andere Wege gehen, um zur Bewältigung der Situation beizutragen. Bewertet das Gehirn also eine Situation als übermächtig und existenziell bedrohlich, verändert es sofort sein neurophysiologisches Gleichgewicht. Herzfrequenz, Atemfrequenz und Muskeltonus werden erhöht oder verändert und es kommt zu einer verstärkten Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol. Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin sorgen dafür, dass die notwendige Körperspannung und Beweglichkeit für Flucht- oder Kampfhandlungen aufgebaut wird. Das Cortisol steigert das Angstempfinden und lässt den Organismus hochwachsam reagieren (Uttendörfer 2009). Gleichermaßen werden Funktionen der Großhirnrinde (Frontalhirn, Sprachzentrum, Hippocampus), die normalerweise unser Denken und Handeln steuern und ordnen, außer Betrieb gesetzt und alle Energie des Organismus bereitgestellt, die im Hirnstamm angesiedelten Notfallprogramme zu aktivieren. Die Amygdala, das Angstzentrum des Organismus, schlägt Alarm und sorgt so für die Auslösung der archaisch angelegten Überlebensprogramme:

  • Flüchten – der Situation entkommen können – oder
  • Kämpfen – sie aus eigener Kraft heraus durch Gegenwehr abwehren zu können.

Gelingt dies und kann dadurch zur Bewältigung der Situation beigetragen werden, kann im Normalfall eine Traumatisierung verhindert werden. Können diese Handlungsoptionen jedoch nicht zur Lösung der Situation genutzt werden, gerät der betroffene Mensch in die sogenannte traumatische Zange (Huber 2009a). Die reflex­artig aufgerufenen Handlungsimpulse bleiben im Ansatz stecken und können nicht vollzogen werden. Es entsteht die ein Trauma kennzeichnende Situation – No flight, no fight – die jetzt diejenigen Maßnahmen des Gehirns aufruft, die notwendig sind, um in der aktuellen Situation psychisch überleben zu können, jedoch zugleich die Grundlage vielfältiger traumabasierter Symptombildung darstellen.

Wenn es also innerhalb der traumatischen Situation nicht gelingt, durch reales Handeln der Situation zu entkommen, kann das Gehirn dieses Entkommen nur durch eine Veränderung seiner Wahrnehmungsleistungen herstellen. Dieses geschieht zunächst durch die sogenannte Freeze-Reaktion. Freeze bedeutet einfrieren und kann als eine Art Lähmung verstanden werden, die bewirkt, dass der Mensch sich vom Geschehen innerlich distanzieren kann und in den Zustand einer Unterwerfungsreaktion (Submission) wechselt. Ausgelöst durch eine Flut von Endorphinen sind Gefühle und Körperzustände im Freeze-Zustand wie betäubt (Huber 2009a). Dissoziative Phänomene wie Derealisation (die Umgebung wird als fremd und unwirklich wahrgenommen) und Depersonalisation (die eigene Person oder den eigenen Körper nicht spüren und sich unbeteiligt fühlen) werden ausgelöst (Huber 2009a). Während dieses Prozesses werden die einzelnen Wahrnehmungsdetails (sensorisches, emotionales, körperliches, kognitives Erleben) fragmentiert und die

„räumlich-zeitliche Einordnung (Hippocampus) und die assoziativen Fähig­keiten des Bewusstseins (Frontalhirnfunktionen), die normalerweise den sensorischen Input zu einem zusammenhängenden Erlebnis und einer später abrufbaren Erinnerung verknüpfen, außer Kraft gesetzt“ (Hüther et al. 2010, 22).

Lutz Besser vergleicht diesen fragmentarischen Speicherungsprozess mit der Zersplitterung eines Spiegels, dessen Einzelteile unverbunden im Gedächtnis abgelegt werden (Besser 2009). In dem bekannten Werk ‚Das Attentat‘ beschreibt Harry Mulisch in eindrucksvoller Weise...

Kategorien

Service

Info/Kontakt

  Info
Hier gelangen Sie wieder zum Online-Auftritt Ihrer Bibliothek