Mit geistig Behinderten leben und arbeiten. Eine entwicklungspsychologische Einführung

Mit geistig Behinderten leben und arbeiten. Eine entwicklungspsychologische Einführung

 

 

 

von: Barbara Senckel

C.H.Beck, 2007

ISBN: 9783406381119

Sprache: Deutsch

413 Seiten, Download: 2121 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Mit geistig Behinderten leben und arbeiten. Eine entwicklungspsychologische Einführung



Zweites Kapitel Das erste Lebensjahr (S. 32) ,

I. Der Säugling als «physiologische Frühgeburt»

Zu dem Zeitpunkt, an dem ein Menschenkind den Mutterleib verläßt und den beschriebenen, radikalen Wechsel seiner Lebensbedingungen auf sich nimmt, können seine vitalen Funktionen (Atmung, Stoffwechsel, Wärmeregulierung) selbständig arbeiten. Dennoch ist es, verglichen mit anderen höheren Säugetieren, nur sehr dürftig entwickelt. Jedes neugeborene Fohlen (Nestflüchter) kann laufen, jedes Äffchen (Tragling) sich an der Mutter festklammern und folglich sein eigenes Gewicht tragen, beide koordinieren ihre Bewegungen hinreichend, um die Nahrungsquelle selbständig aufzusuchen und sich in begrenztem Maß selbst zu schützen.

Ein Säugling vermag beides nicht. Erst mit einem Jahr lernt er, mit dem Erwerb der aufrechten Haltung, zu gehen. Die höheren Säugetiere äußern sich auch von Anfang an in artspezifischen Lauten. Das Wiehern eines Fohlens unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem seiner Pferdemutter. Das Kind aber lallt zunächst ein Jahr lang, bis es die ersten Wörter seiner Muttersprache nachplappern kann.

Da das Menschenkind also erst mit einem Jahr die artspezifischen Fähigkeiten beherrscht, die ein höheres Säugetier schon bei der Geburt besitzt, bezeichnet der Schweizer Biologe Portmann es als «physiologische Frühgeburt» und das erste Lebensjahr als «extrauterines Frühjahr». Unreif und unvergleichlich hilflos wird es in seine Familie hineingeboren, die es als ein «sozialer Uterus» aufnimmt und ihm noch ein Jahr lang weitgehend «gebärmutterähnliche» Fürsorge zuteil werden läßt.

Die frühe Geburt des Kindes ist jedoch keineswegs als Nachteil zu betrachten. Vielmehr eröffnet erst sie die typisch menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Denn aufgrund der physiologischen Unreife ist das Verhalten des Säuglings längst nicht so festgelegt wie das der Tiere. Seine nur schwach ausgeprägten Instinkte schreiben ihm nicht im einzelnen vor, was er in verschiedenen Lebenssituationen zu tun hat, sie legen ihm lediglich gewisse Verhaltenstendenzen nahe.

Das bedeutet aber auch, daß menschliche Handlungen nicht von vorneherein triebhaft gebunden sind, sondern daß es einen Freiheitsspielraum gibt, in dem ungebundene Energien auf eine nicht durch die Situation festgelegte Art und Weise in Handlung umgesetzt werden können. Die Möglichkeit, Distanz zur gegenwär- tigen Situation zu gewinnen, die prinzipielle Freiheit, ein und dieselbe Gegebenheit auf unterschiedliche Weise zu beantworten, ist damit eröffnet.

Diese Freiheit wird erfahrbar als die Fähigkeit innezuhalten, nachzudenken, zu wählen, eine Tat zu beurteilen und mögliche Folgen abzuschätzen. Sie schlägt sich aber auch in der menschlichen Kulturentwicklung nieder. Die Vielseitigkeit, mit der unterschiedliche Völker ihr Leben gestalten, liegt nicht nur in der Notwendigkeit begründet, auf verschiedenartige Umweltbedingungen angemessen zu reagieren, sondern zeigt, daß sich mannigfaltige Lösungen für ähnliche Probleme finden lassen, weil die Handlungsweisen nicht genetisch vorherbestimmt sind.

Da dem Menschen seine Fähigkeiten nicht in die Wiege gelegt werden, muß er sie erst im Laufe seiner Entwicklung erwerben. Offen in seinen Verhaltensmöglichkeiten, ist er wie kein anderes Wesen darauf angewiesen zu lernen, hat aber auch in einem jedes Tier übertreffenden Maße die Fähigkeit dazu. Der «weltoffene» Säugling ist erziehungsbedürftig und erziehungsfähig.

Für die Lernentwicklung ist seine physiologische Unreife bei der Geburt von unschätzbarem Wert. Denn das Niveau seiner späteren Handlungsund Denkmöglichkeiten hängt ab von der Differenzierung seiner Hirnstruktur, die sich zu einem bedeutsamen Teil im ersten Lebensjahr vollzieht. Sie ereignet sich im Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und motorischer Reaktion und ist folglich an Umwelterfahrungen und Lernprozesse gebunden.

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