Hungrige Zeiten. Überleben mit Magersucht und Bulimie

Hungrige Zeiten. Überleben mit Magersucht und Bulimie

 

 

 

von: Annika Fechner

C.H.Beck, 2008

ISBN: 9783406547669

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 1295 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Hungrige Zeiten. Überleben mit Magersucht und Bulimie



Das hier ist meine Geschichte. (S. 5)

Und zugleich ist es auch nur eine Geschichte, eine Geschichte von vielen, für viele. Für viel zu viele. So individuell, persönlich und einmalig meine Erlebnisse und Erfahrungen auch sein mögen, sie passen immer noch ins Raster, sprengen nicht den Rahmen. Ein Härtefall, gewiss, aber bei dieser Krankheit sind eine langjährige Dauer und mehrfache Klinikaufenthalte fast schon normal. Sagen die Experten und die, die sich dazu machen. Wer es beim ersten Anlauf gleich schafft, ist eher eine Ausnahme, ein leichter Fall. Vielleicht.

«Sie sprießen aus dem Boden wie Pilze», sagt meine Mutter und zählt an den Fingern ab, wie viele Familien in ihrem Bekanntenkreis betroffen sind. «Sie», sagt sie, nicht «ihr». Mich zählt sie nicht mehr dazu, ich war seit über einem Jahr nicht im Krankenhaus und passe auch nicht mehr in die Kinderkollektion von H &, M. Deshalb glaubt sie, dass es mir gut gehe, dass ich, zwar nicht geheilt, aber doch einigermaßen stabil sei.

Und sie glaubt es, weil sie es so verzweifelt glauben will. Sie weiß nichts, ahnt nichts von dem Kampf, der sich immer noch Tag für Tag in mir abspielt, der meine Gedanken in altbekannten Bahnen kreiseln lässt und mich innerlich spaltet. Jenen Kampf, den ich nun bereits seit Jahren führe und von dem ich trotz allem noch glaube, dass ich ihn gewinnen kann – solange ich mich nicht auf- und den Löffel buchstäblich abgebe, jenen Kampf, den ich mit unzähligen anderen teile und den doch jede nur für sich selbst kämpfen kann.

Hier soll meine Geschichte erzählt werden, die zugleich die Geschichte von vielen Frauen und auch immer mehr Männern ist. Die Geschichte von Mädchen, die eigentlich noch Pokémon und Diddl sammeln, von Schülerinnen und Studentinnen, von Azubis, Ehefrauen, Ärztinnen und Rechtsanwälten, Arbeitslosen und Früh rentnern. Es gibt sie alle.

Wir hungern und wir kotzen, wir hassen und wir schämen uns, wir sind stolz auf unsere Stärke zum Verzicht und belügen uns selbst damit, dass wir «ab morgen» neu anfangen werden. Wie bekommt man eine Essstörung? Wie wird man magersüchtig oder bulimisch? Fängt man sich das ein wie einen Schnupfen, ein Virus? Liest man darüber nach und trainiert sich das Verhalten dann gezielt an? Kann es sein, dass man «ohne es zu merken» einfach so hineinschlittert?

Warum erkranken jährlich immer mehr und mehr Frauen, darunter viele, auf die diese Bezeichnung noch gar nicht zutrifft, weil sie im Grunde noch Kinder sind ? Sind tatsächlich die Medien schuld, die ein extremes Schlankheitsbild vermitteln? Schauspielerinnen wie Calista Flockhart oder die Sängerin Victoria Beckham, die ihre knöchernen Körper öffentlich zur Schau tragen?

Es ist nichts Neues, zu hungern, sich selbst zu einem Hungerkünstler zu machen. Zahlreiche Berichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert erzählen von jungen Mädchen und Frauen, die auf Nahrung verzichteten, ja behaupteten, nicht darauf angewiesen zu sein. Nicht wenige starben an dieser Lüge. Zuvor jedoch wurden sie wie Heilige verehrt und galten als «Wunder Gottes».

Vom Hunger und der Tatsache, extrem mager zu sein, geht – in Zeiten eines einigermaßen stabilen Wohlstandes wohlgemerkt – eine seltsame Faszination aus.

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