Rechtsphilosophie - Grundwissen Philosophie

Rechtsphilosophie - Grundwissen Philosophie

 

 

 

von: Detlef Horster

Reclam Verlag, 2014

ISBN: 9783159604336

Sprache: Deutsch

112 Seiten, Download: 249 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Rechtsphilosophie - Grundwissen Philosophie



[15] 2. Das Verhältnis von Recht und Moral im Naturrecht, im Rechtspositivismus und im Nationalsozialismus

Wenden wir uns nach den ersten Vorklärungen nun den beiden grundlegenden Richtungen der Rechtsphilosophie, dem Naturrecht und dem Rechtspositivismus, zu. Das nationalsozialistische Recht spielte in der Rechtsphilosophie immer eine besondere Rolle. Die Auffassungen darüber waren stets kontrovers. Im Folgenden wird in diesem Streit zwar auch eine Positionierung vorgenommen, doch dient die Darstellung vor allem der weiteren und tieferen Klärung von Naturrecht und positivem Recht und deren Unterscheidung.

Naturrecht

Sokrates und Platon

In der Polis wird die Nachfrage nach normiertem, gerechtem Recht drängend, denn nachdem sich die familien- oder standesorientierte Blutrache überlebt hatte, gab es Rechtsprozesse. Der Übergang wurde in den Tragödien unter Bezugnahme auf den Konflikt zwischen dem Stand und der Polis dargestellt. Augenfällig ist das in der Orestie. Nach einer Reihe von standesgemäßen Blutrachen wird Orest, der seine Mutter Klytämnestra pflichtgemäß getötet hat, als Letzter in der Reihe nicht mehr Opfer einer weiteren Blutrache, sondern er wird einer Art Prozess zugeführt, in dem es zwar zu einem Urteil kommt, das aber von Pallas Athene manipuliert wurde. (Vgl. Aischylos 458 v. Chr. / 1958, 135, Rdn 734–743) Dass es überhaupt einen Prozess gab, ist schon eine wichtige Neuerung, [16] die aus unserer heutigen Sicht und Interpretation auf den beginnenden Verrechtlichungs- und Demokratisierungsprozess hinweist.

Die Griechen waren in ihren Prozessen demokratisch organisiert. Deshalb bestanden ihre Gerichte aus einer großen Zahl von Volksrichtern, teilweise hundert und mehr. Vor einem Einzelnen, wie im römischen und in einem heutigen Prozess, argumentiert man anders als vor einer Volksmenge, ruhiger und genauer. »Eine Menschenmenge versucht man eher emotional und rhetorisch auf seine Seite zu ziehen.« (Wesel 1992, 53) Darum ist man auch heute noch der Ansicht, dass »nur in der Stille des Beratungszimmers […] eine ruhige Abwägung aller Gründe für und wider die vorgetragenen Ansichten möglich [sei], nur dort würde sich der Richter unbefangen zur Sache äußern, nur dort könne ein überzeugender Beschluss getroffen werden. Eine öffentliche Urteilsberatung, so wurde befürchtet, würde die Chancen eines unbefangenen Rechtsdiskurses beeinträchtigen und die Bildung von Privatgremien befördern, in denen die entscheidenden Fragen weiterhin ungestört erörtert werden könnten.« (Lahusen 2011, 149) Unser Recht steht in dieser Hinsicht in der römischen Tradition und nicht in der griechischen.

Sokrates ging, wie gesagt, von einer Identität von Recht und Moral bzw. Gerechtigkeit aus. Zur gleichen Zeit wurde die Differenzthese formuliert: »In der griechischen Sophistik im 5. Jahrhundert v. Chr. werden zum ersten Male ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ nicht in selbstverständlicher Übereinstimmung […] gesehen.« (Loos/Schreiber 1972, 234) Für Sokrates hingegen sind Gesetze gerecht. Unrecht erfuhr Sokrates bei seiner Verurteilung zum Tode nach seiner Ansicht nicht durch die Gesetze, sondern durch die Menschen, die sie falsch auslegten. (Vgl. Kriton, Kap. 16) »Es gab kein ungerechtes Recht, nur ungerechte Menschen.« (Wesel 1996, 408) Man muss hinzufügen, dass Sokrates von seiner Mentalität her einer Menschenmenge rhetorisch nicht gewachsen war.

[17] Platon zog bei der Erörterung dessen, was Gerechtigkeit ist, eine Parallele zwischen dem Gemeinwesen und dem einzelnen Menschen und sagte, es sei für seine Analyse der Gerechtigkeit einfacher, dasselbe in großen Buchstaben zu lesen und »nachdem wir diese zuerst gelesen, dann erst die kleineren zu betrachten, ob sie wirklich dieselben sind« (Politeia 368d). Platon erkennt am Gemeinwesen, wie es sich beim Menschen verhalten sollte. Wenn die Tugenden sowohl im Gemeinwesen wie beim einzelnen Menschen miteinander harmonieren, sprechen wir von einer gerechten Gesellschaft oder einem gerechten Menschen. Gerechtigkeit wird deshalb von Platon als die vierte Tugend neben den drei anderen, Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit, angesehen. Dem Lehrstand kommt die Tugend der Weisheit zu, dem Wehrstand die Tapferkeit und dem Nährstand, der sich aus Bauern und Handwerkern zusammensetzt, die Tugend der Besonnenheit. Die Stände dürfen nicht in Konkurrenz zueinander treten, weil dies dem Gemeinwesen auf Dauer schaden, ja sogar seinen Untergang bedeuten würde. Das Gemeinwesen hat nur Bestand, wenn die Tugenden miteinander harmonieren. Dann sprechen wir von einem gerechten Gemeinwesen. Ähnlich verhält es sich beim einzelnen Menschen. Den Organen werden einzelne Tugenden zugeordnet: dem Kopf die Weisheit, dem Herzen die Tapferkeit und dem Bauch die Besonnenheit. Die Organe müssen die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen und dürfen nicht untereinander konkurrieren. Und wenn beim Menschen die Tugenden miteinander harmonieren, handelt es sich um einen gerechten Menschen. Schematisiert sieht dies so aus:

[18] Gemeinwesen

Mensch

Tugenden

1. Lehrstand

1. Kopf

1. Weisheit

2. Wehrstand

2. Herz

2. Tapferkeit

3. Nährstand

3. Bauch

3. Besonnenheit

Bezogen auf den im 15. Jahrhundert einsetzenden Individualisierungsprozess, auf den an späterer Stelle noch eingegangen wird, muss man für die Polis noch festhalten, dass keiner seinen Stand verlassen oder seinen Beruf wechseln konnte. Wer beispielsweise dem Nährstand angehörte, konnte nicht in den Lehrstand wechseln oder umgekehrt. Heute hingegen ist es den Menschen durchaus möglich, den Beruf und den Ort ihrer Tätigkeit zu wechseln.

Was bedeutet das nun für das Recht bei Platon? In seiner Schrift Nomoi heißt es, dass Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit die Grundlagen der Gesetze sein müssen, ganz gleich, ob der naturrechtliche Gesetzgeber (der von Zeus bestellte Gesetzgeber) gemeint ist oder jeder andere Gesetzgeber, also auch der staatliche. Ganz gleich, welcher Gesetzgeber angesprochen ist, er solle jedenfalls sein Augenmerk auf nichts anderes richten als auf die höchste Tugend, und das ist die vollendete Gerechtigkeit. (630a–d) Platon hält daher die Gerechtigkeit für die Basis des Rechts. Auch er geht ebenso wie Sokrates von der Identität von Gerechtigkeit bzw. Moral oder Tugend und dem Recht aus.

In der Antike stellte sich immer wieder die Frage, ob die Menschen das Recht setzen oder ob es ein natürliches Recht gibt. Die Sophisten sprachen vom Nomos oder von »thesei [19] dikaion« (vom Menschen gesetzter Gerechtigkeit) auf der einen Seite und von Physis oder »physei dikaion« (Naturrecht) auf der anderen Seite. Das gerechte Recht zerfiel demnach in das vom Menschen gemachte und das natürliche.

Nach Ansicht von Karl-Heinz Ilting finden wir in der Stoa »zum ersten Male die Konzeption eines Naturrechts im Sinne eines universell verbindlichen Normensystems vorgezeichnet« (Ilting 1972, 257). »Naturrecht ist für...

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