Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft
von: Stephan Lessenich, Frank Nullmeier
Campus Verlag, 2006
ISBN: 9783593414676
Sprache: Deutsch
375 Seiten, Download: 3395 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
Deutsche – Ausländer (S.273)
Dietrich Thränhardt
1. Begriffe und Kontroversen
Das soziale Feld der Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern ist unübersichtlich. Auf der einen Seite haben die politischen Auseinandersetzungen um die (vermeintlich) mangelnde Integration und Integrationsbereitschaft von Nicht-Deutschen in die deutsche Gesellschaft in jüngster Vergangenheit an Schärfe zugenommen.
Im Frühjahr 2006 gingen ausländerkritische Positionierungen in der öffentlichen Debatte so weit, die Einführung eines Straftatbestandes der ›Integrationsverweigerung‹ zu fordern. Anlässlich des im Juli 2006 vom Bundeskanzleramt organisierten ›Integrationsgipfels‹ forderte der nordrhein-westfälische Integrationsminister eine breit angelegte ›Einbürgerungskampagne‹ – von Einwanderern, »die Deutsch sprächen und vom Verfassungsschutz überprüft seien, ›nicht in Parallelwelten leben und keine Sozialleistungen beziehen, sondern arbeiten‹ « (FAZ v. 10.7.2006).
Auf der anderen Seite hat die zur selben Zeit auf deutschem Boden ausgetragene Fußballweltmeisterschaft offensichtlich – zumindest kurzfristig – das Wir-Gefühl nicht nur der deutschen Staatsbürger und -bürgerinnen angefacht. Bilder von durch Berlin kreuzenden, mit einer deutschen und einer türkischen Fahne an Fahrer- und Beifahrertür versehenen Autos, deren Insassen die (überraschend häufigen) Siege der deutschen Nationalmannschaft feierten, wurden von den Medien begierig aufgenommen und verbreitet.
Ein Zeichen von Integration, ganz ohne Einbürgerung und Einbürgerungsauflagen? Sind die ›Gastarbeiter‹ also doch in Deutschland angekommen? ›Gastarbeiter‹ war seit Beginn der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte im Jahr 1955 die allgemein übliche umgangssprachliche Bezeichnung für die Migranten aus dem Mittelmeerraum.
Die offizielle Formulierung ›ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien‹ war in der Öffentlichkeit kaum präsent. Der einprägsame Begriff ›Gastarbeiter‹ hatte mehrere Di- mensionen. Zunächst war er ein angestrengt positiv aufgeladener Euphemismus, der sich von dem traditionellen und im Dritten Reich gebrauchten Begriff ›Fremdarbeiter‹ abhob – einem Begriff, der in der von keinem Zweifel befallenen Schweiz noch jahrzehntelang gebraucht wurde, auch in der wissenschaftlichen Literatur.
Der Begriff stand für die Bemühung, die Arbeitnehmeranwerbung im neuen demokratischen Deutschland vorbildlich zu gestalten und internationaler Kritik keine Basis zu bieten – eine Haltung, die für die Anwerbepolitik der ersten Jahrzehnte charakteristisch war. Zweitens sagte der Begriff ›Gastarbeiter‹ aus, dass es ausschließlich um Arbeiter-Arbeitsplätze ging, um Arbeitsplätze, für die man nicht mehr genügend Einheimische fand.
Kritiker bemängelten denn auch schnell, dass man Gäste nicht unbeliebte Arbeiten machen lässt und ihnen nicht die schlechtesten Wohnungen zuweist. Drittens beinhaltete der Begriff, dass es nicht um endgültige Einwanderung, sondern um vorübergehende Arbeitsaufnahme ging, also um einen Arbeits-Aufenthalt auf Zeit. In der Tat kehrte die Mehrheit der in der Boom-Zeit von 1960 bis 1973 angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurück.
Auch die, die blieben, lebten lange mit dem ›Mythos der Rückkehr‹. Die Anwerbeverträge sprachen einerseits von der Erwartung, dass wirtschaftlicher Aufschwung langfristig eine Beschäftigung der ›Gastarbeiter‹ auch im Heimatland möglich machen würde.
Für Italien, Portugal, Griechenland und vor allem für Spanien ist dieser Aufschwung im Nachhinein auch eingetreten. Andererseits sahen die Verträge von Anfang an vor, dass die Familien der Arbeitskräfte mit einwandern konnten