Evolution - Grundwissen Philosophie

Evolution - Grundwissen Philosophie

 

 

 

von: Georg Toepfer

Reclam Verlag, 2013

ISBN: 9783159604008

Sprache: Deutsch

140 Seiten, Download: 237 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Evolution - Grundwissen Philosophie



[26] Der wissenschaftliche Status der Theorie

Erfolg durch Flexibilität

Seit ihrer Begründung Mitte des 19. Jahrhunderts stellt die Evolutionstheorie keine scharf umrissene und systematisch geschlossene Theorie dar, sondern sie besteht aus einer Menge lose miteinander verbundener Thesen und Argumentationen. Gerade diese Vieldimensionalität und Vielschichtigkeit der Theorie kann als ein Grund für ihre breite Anerkennung gelten. Sie bietet Anschluss in verschiedene Richtungen und kann flexibel an unterschiedliche Standpunkte angepasst werden. So können in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbst solche Autoren, die auf Distanz zum Selektionsprinzip gehen, wie T. H. Huxley, oder andere, die einen göttlichen Eingriff in der Evolution des Menschen für möglich halten, wie A. R. Wallace, sich als Anhänger Darwins verstehen. Bei aller Differenz im Detail etabliert sich die Evolutionsbiologie also schon früh im Sinne eines gemeinschaftlich getragenen Forschungsprogramms. Die Gründe für den Erfolg des Ansatzes liegen aber nicht nur in der flexiblen Struktur der verwendeten Modelle, sondern auch im vollständigen Fehlen eines alternativen Rahmens, der die empirischen Daten auch nur annähernd ähnlich überzeugend deuten könnte.

Bereits in ihrer Frühphase ist die Evolutionsbiologie also durch ein flexibles Nebeneinander mehrerer Paradigmen und Theorieansätze gekennzeichnet. Zu den zentralen Bestandteilen gehören die Lehre der genealogischen Verwandtschaft der Organismen und die Selektionstheorie. Daneben ist auch die vergleichende Anatomie und Biogeografie von Anfang an integraler Bestandteil der Evolutionsbiologie. Weil die verschiedenen Paradigmen aber flexibel miteinander verbunden [27] und in unterschiedlicher Kombination vertreten werden, erscheint die Evolutionsbiologie seit ihrem Anfang als ein Bündel nebeneinander bestehender Methoden, Fragestellungen und Argumentationsmuster, als eine »Familie zusammenhängender Modelle«32. Dieses Forschungsprogramm besteht aus deskriptiven und explanativen Teilstücken von sehr unterschiedlicher Herkunft und Reichweite. Seine Elemente stützen sich gegenseitig, ohne aber in ein theoretisch kohärentes und axiomatisch geordnetes Schema gebracht werden zu können. Es wird daher meist – besonders im Rahmen der so genannten semantischen Wissenschaftstheorie – darauf verzichtet, die Evolutionstheorie als eine axiomatisch strukturierte Theorie mit einer hierarchischen Ordnung von Theoremen zu präsentieren.33

Die Flexibilität des theoretischen Gebäudes zur Evolution ist aber nicht nur mit einem strategischen Gewinn verbunden, sondern auch mit Problemen. Besonders die Beschreibung der Gegenstände auf zwei Ebenen oder in zwei »Zustandsräumen«, dem genotypischen und dem phänotypischen Zustandsraum, führt bis in die Gegenwart zu Schwierigkeiten. Phänotypisch werden die Organismen in ihrer Einheit und Ganzheit als Organismen mit bestimmten Merkmalen beschrieben; genotypisch werden diese Merkmale auf bestimmte erbliche Merkmalsträger, die Gene, zurückgeführt. Die Verteilung ist häufig derart, dass in einer Aussage zu Evolutionsprozessen die Ursachen der Evolution auf phänotypischer Ebene (als »Anpassung« oder »Fitness« von Organismen), die Wirkungen dagegen auf genotypischer Ebene (als Änderung von »Genfrequenzen«) angegeben werden.34 Ein wesentlicher Teil der Evolutionsbiologie besteht darin, die Interaktion zwischen diesen zwei Ebenen mittels Transformationsgesetzen zu beschreiben und zu erklären.35

[28] Zentrale Integrationstheorie der Biologie

Die Evolutionsbiologie gilt als eine zentrale integrierende Teildisziplin der Biologie. In ähnlicher Weise wie die Zellenlehre in struktureller Hinsicht hat sie seit dem 19. Jahrhundert wesentlichen Anteil an der theoretischen und konzeptionellen Vereinigung der traditionell getrennten biologischen Subdisziplinen, etwa der Botanik und Zoologie. Ausgehend von evolutionsbiologischen Konzepten erfolgt im 20. Jahrhundert auch die Zusammenführung der traditionell primär naturhistorisch orientierten Richtungen, wie der Ökologie, Ethologie oder Biogeografie, mit den experimentell arbeitenden Laborwissenschaften, wie der Physiologie, Genetik und Entwicklungsbiologie. In vielen Fällen liefert die Evolutionsbiologie den deskriptiven Teilen der anderen Subdisziplinen eine theoretisch fundierte Basis, die eine einheitliche Erklärung weit gestreuter Beobachtungen ermöglicht.

Über ihre die Biologie integrierende Funktion hinaus wird die evolutionäre Perspektive von vielen Autoren als konstitutiv für die Biologie angesehen. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die von T. Dobzhansky 1964 formulierte Behauptung, in der Biologie mache nichts Sinn, wenn es nicht im Lichte der Evolution betrachtet werde.36 Ähnlich urteilte A. Rosenberg 1985 mit der These, ohne die Evolutionstheorie gebe es überhaupt keine Biologie.37 Diese Ansichten können aber zumindest insofern ergänzt werden, als auch von anderen biologischen Teildisziplinen, zum Beispiel der Molekularbiologie oder der Ökologie, behauptet werden kann, dass ohne sie in der Biologie nichts Sinn machen und es ohne sie auch keine Biologie geben würde.38

Ein Grund für die Bedeutung der evolutionären Perspektive in der Biologie liegt in der Anerkennung, dass der einmalige historische Verlauf der Entwicklung für die Erklärung der konkreten Gestalt von Organismen wesentlich ist und deshalb ein rein physikalisch-strukturalistischer Ansatz den biologischen Gegenständen nicht gerecht wird.

[29] Methodisch ist die Evolutionstheorie darüber hinaus insofern zentral, als sie mit der Selektionstheorie eine durchgehende Erklärung für die besondere Gestalt der Organismen liefert, nämlich als Anpassung. Dobzhanskys These, dass in der Biologie außerhalb des Lichts der Evolution nichts Sinn mache, kann daher auch normativ verstanden werden: Biologisch soll stets danach gefragt werden, was der evolutionäre Hintergrund eines Merkmals und einer Gestalt ist, welcher adaptive Nutzen damit verbunden ist und insbesondere in der Vergangenheit war.

Als die für die Evolutionsforschung basale Theorie identifizierte M. Ruse 1973 die Populationsgenetik.39 Anerkannt ist dies allerdings nur insofern, als die von der Evolutionstheorie bestimmten Parameter auf der Ebene von Populationen gültig sind. Die speziellen Gesetze der mendelschen Genetik sind dagegen keine allgemeine Grundlage der Evolutionslehre. Denn die mendelschen Mechanismen der Genetik sind keine allgemeinen Voraussetzungen für Evolution, sie können vielmehr als Ergebnis einer Selektion erklärt werden. Das für die mendelsche Genetik zentrale Hardy-Weinberg-Gesetz, das die Konstanz der Genfrequenzen innerhalb einer Population beschreibt, schließt eine Evolution sogar explizit aus.

Empirischer Gehalt der Theorie

Nicht wenige Biologen und Theoretiker der Biologie haben nach der Formulierung der Evolutionstheorie durch Darwin argumentiert, die Theorie sei nicht allein durch das erdrückende empirische Material eine bestens belegte Theorie, sondern habe darüber hinaus einen quasi apriorischen, alternativlosen Status in der Biologie. So meinte E. Haeckel bereits 1866: »Es giebt keine andere Theorie und es ist auch keine andere Theorie denkbar, welche uns die gesammten Form-Veränderungen der Organismen erklärt«40. Und weiter: »Wir [30] haben also bloss die Wahl zwischen dem völligen Verzicht auf jede wissenschaftliche Erklärung der organischen Natur-Erscheinungen und zwischen der unbedingten Annahme der Descendenz-Theorie«41. Haeckel bezieht diese Beurteilung auf den phylogenetischen Teil von Darwins Theorie, die genealogische Verbundenheit von Organismen verschiedener Arten. Von den Theoretikern der Biologie wird auch der anderen Komponente der Theorie, dem Prinzip der natürlichen Selektion, dieser Status zugeschrieben. N. Hartmann bringt diese Einschätzung zum Ausdruck, wenn er schreibt, das Selektionsprinzip sei »kein bloßer Erfahrungssatz, sondern eine echt apriorische Einsicht«42. Diese Einschätzung ergibt sich daraus, dass das Selektionsprinzip bereits aus wenigen Annahmen folgt, nämlich aus der Variabilität der Organismen und der Erblichkeit ihrer Fitness.

Es sind daneben aber noch andere Erklärungen zumindest »denkbar« (Haeckel), sodass sowohl die Deszendenz- als auch die Selektionstheorie empirische und nicht alternativlos oder apriorisch gültige Theorien sind. Drei mögliche andere Erklärungen für die Vielfalt der Formen und ihre Veränderung sind...

Kategorien

Service

Info/Kontakt

  Info
Hier gelangen Sie wieder zum Online-Auftritt Ihrer Bibliothek