Grundlagen systemischer Therapie und Beratung - Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen

Grundlagen systemischer Therapie und Beratung - Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen

 

 

 

von: Günter Schiepek, Heiko Eckert, Brigitte Kravanja

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840924750

Sprache: Deutsch

116 Seiten, Download: 7845 KB

 
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Grundlagen systemischer Therapie und Beratung - Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen



Dies entspricht der Erwartung des „Dodo bird“-Effekts. Um die Hypothese zu widerlegen, hätte eine wesentlich breitere und flachere Verteilung um Null erkennbar sein müssen (im eindeutigen Fall sogar eine zweigipflige Verteilung), die durch eine größere Zahl ausgeprägter Effektstärken, d. h. Wirksamkeitsunterschiede zwischen Treatments zustande gekommen wäre. Keine Unterschiede ergaben sich, wenn man die verglichenen Treatments nach Ähnlichkeitsklassen einteilte. Deutlich unähnliche Behandlungsformen wiesen keine ausgeprägteren Wirksamkeitsunterschiede auf als ähnliche Behandlungsformen. Auch das Publikationsjahr, das mit der methodischen Qualität der untersuchten Studien korreliert sein könnte (neuere Studien sind vielleicht methodisch besser), hatte keinen Einfluss auf die Treatmentunterschiede.

Der „Dodo Bird“-Effekt bleibt bis auf weiteres ein starkes Argument. In seiner Übersichtsarbeit von 2010 zieht Bruce Wampold den lapidaren Schluss: „Clinical trials comparing two treatments should be discontinued“ (S. 71). In freier Übersetzung: Weitere Investitionen in kompetitive Therapievergleiche lohnen sich nicht mehr, die Ressourcen sollten in andere Entwicklungen der Therapieforschung investiert werden.

2.4 Allegiance: Die Identifiziertheit mit dem eigenen Ansatz

Mögliche Unterschiede in der Wirksamkeit einzelner Ansätze relativieren sich einmal mehr, wenn man eine wichtige konfundierende Variable berücksichtigt und die daraus resultierenden Biases kontrolliert, nämlich die selektive Identifiziertheit der beteiligten Forscher und Therapeuten mit den untersuchten Ansätzen (sog. „allegiance“, z. B. Wampold, 2001, 2010). Dass Forscher und Therapeuten eine emotionale Bindung, Identifikation und Überzeugtheit von und mit ihren Konzepten und Vorgehensweisen an den Tag legen und in mehr oder weniger subtiler Weise an ihre Klienten kommunizieren, ist menschlich. In der Praxis macht dies wohl einen Teil der Glaubwürdigkeit und der fachlichen Autorität des Therapeuten, aber auch der Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht an den Klienten aus.

In verschiedenen Metaanalysen wurde versucht, die Effektstärken der Allegiance abzuschätzen. Dush et al. (1983) kommen dabei auf Werte zwischen .60 und .70 (bezogen auf unterschiedliche Ansätze kognitiver Therapien), Berman et al. (1985) im Rahmen eines Vergleichs von Studien zu kognitiver Therapie und systematischer Desensibilisierung auf eine Effektstärke von .65, und Robinson et al. (1990) bei einer Untersuchung von Studien zur Depressionsbehandlung auf eine durchschnittliche Korrelation von .58 zwischen Methodenidentifikation und Therapieeffekt, was einer Determination von 34 % der Ergebnisvarianz entspricht. Gaffan et al. (1995) stellten dagegen fest, dass bei einem Vergleich von früher und später durchgeführten Studien zur kognitiven Therapie der Zusammenhang zwischen Allegiance und Behandlungsergebnis verschwand. Mit Ausnahme dieser Studie, so resümiert Wampold (2001, S. 168), erreichen die Effekte der Methodenidentifikation ES-Werte um .65, was weit über die in Metaanalysen abgeschätzte Obergrenze für die differenzielle Effektstärke von Behandlungstechniken hinausgeht. Wie bereits erwähnt, liegt diese Obergrenze nach Wampold bei .20, was bedeutet, dass der Beitrag der Technik-Komponente zum Gesamtergebnis von Psychotherapien geringer ist als der Beitrag von Allegiance und anderer Komponenten (z. B. Beziehungsqualität, Motivation und andere Klientenmerkmale, Therapeutenmerkmale, oder eben Methodenidentifikation; vgl. die Übersichtsarbeiten von Lambert, 1992; Miller et al., 1997; Orlinsky et al., 1994; Shapiro et al., 1994; Stiles et al., 1994).

2.5 Sudden Changes

In den letzten Jahren konnte eine wachsende Anzahl von Studien diskontinuierliche, sprunghafte Veränderungen in der Entwicklung der Klienten nachweisen (die erste Publikation hierzu wurde von Ilardi und Craighead 1994 vorgelegt, vgl. Abb. 2). Solche Veränderungsmuster werden als „early sudden changes“ oder „sudden gains“ bezeichnet (bei plötzlichen Verschlechterungen im Verlauf spricht man von „sudden losses“). Eine Definition von Tang und DeRubeis (1999a) fordert für solche Phänomene, dass sie
a) eine erkennbare absolute Größe aufweisen,
b) eine deutliche relative Größe zur Symptomausprägung vor dem Veränderungssprung haben und
c) auch in Relation zu Symptomfluktuationen vor dem Veränderungssprung deutlich sind.

Wurden zunächst diskontinuierliche Veränderungen vor allem in der Behandlung von Depressionen festgestellt (z. B. Busch et al., 2006; Hayes et al., 2007a,b; Ilardi & Craighead, 1994, 1999; Kelly et al., 2005, 2007a; Tang & DeRubeis, 1999a,b; Tang et al., 2005, 2007; Vittengl et al., 2005), zeigte sich, dass das Phänomen keineswegs eine Therapiebesonderheit depressiver Klienten ist, sondern auch bei anderen Störungsbildern wie Bulimie, Alkoholmissbrauch oder Zwangsstörungen auftritt (Heinzel et al., 2011; Schiepek et al., 2009; Stiles et al., 2003; Wilson, 1999).

In einer eigenen Studie (Schiepek et al., 2009) konnten wir eine zeitliche Koinzidenz zwischen der diskontinuierlichen Symptomreduktion einer Zwangspatientin (erfasst im wöchentlichen Rhythmus mit der Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale [Y-BOCS], Goodman et al., 1989) und deutlichen Veränderungen der neuronalen Aktivität feststellen, wobei letztere mit wiederholt durchgeführter funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) im Therapieverlauf erfasst wurde (individualisiertes Stimulationsparadigma mit symptomprovokativen Bildern im Kontrast zu Ekelbildern und neutralen Bildern). Der steilste Veränderungsgradient von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken sowie der neuronalen Aktivitätsmuster trat bemerkenswerter Weise zeitlich vor der zentralen Intervention, nämlich einer massierten Reizkonfrontation (exposure with response prevention) auf (vgl. auch Kapitel 9.3, Abb. 32).

Diskontinuierliche Veränderungen können mit ganz unterschiedlichen Outcome-Maßen und Symptomskalen abgebildet werden und sind weder auf manualisierte kognitive Therapien noch auf das standardisierte Setting randomisierter Vergleichsstudien beschränkt (Tang et al., 2002). Stiles et al. (2003) fanden „sudden gains“ bei unterschiedlichen Diagnosegruppen und Behandlungsansätzen in der therapeutischen Routineversorgung, Stulz et al. (2007) dokumentierten „sudden changes“ in der ambulanten Alltagspraxis, und Kelly et al. (2005) in Gruppentherapien. Spontane Symptomveränderungen treten offenbar auch ohne Interventionen und außerhalb von Therapien auf (Kelly et al., 2007b). Auch die vielzitierten pre-session changes, also Veränderungen zwischen dem Entschluss zur Therapieaufnahme oder verbindlicher Anmeldung und erster Sitzung oder Klinikaufnahme passen in dieses Bild (Lawson, 1994; Weiner-Davies et al., 1987), sowie Berichte über quantum changes, also spontane persönliche Veränderungen mit und ohne Therapie (Miller & C’de Baca, 2001). Es handelt sich offenbar um ein sehr universelles und robustes Phänomen, das in deutlichem Kontrast zu klassischen Vorstellungen einer kontinuierlichen und stetigen Veränderung steht (vgl. Abb. 3).

Diskontinuierliche Verlaufsmuster scheinen die Regel und nicht die Ausnahme zu sein, wobei spontane, substanzielle Verbesserungen häufig bereits früh im Verlauf eintreten und charakteristisch für langfristig positive Entwicklungen sind. Mehrere Autoren sehen darin .

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