Was jeder vom Judentum wissen muss
von: Christina Kayales, Astrid Fiehland van der Vegt (Hrsg.)
Gütersloher Verlagshaus GmbH, 2005
ISBN: 9783579064079
Sprache: Deutsch
208 Seiten, Download: 2534 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Die Begegnung von Christen und Juden (S. 142-143)
DIE JÜDISCHE WAHRNEHMUNG DES CHRISTENTUMS
Für Juden war und ist es nicht ungewöhnlich, ihr Leben zu leben, die eigene Religion zu studieren und zu praktizieren, ohne je Interesse am Christentum zu zeigen. Aus religiöser Sicht ist es für Juden nicht notwendig, sich mit dem Christentum zu beschäftigen. Anders sieht dies jedoch aus sozialer und politischer Perspektive aus. »Mehr als ein Jahrtausend lang konnte ... kein europäischer Jude folgender Frage ausweichen: Wie kann ich als Mitglied einer schutzlosen und häufig verachteten Minderheit in einer christlichen Gesellschaft überleben, die von Gesetzen und Prinzipien bestimmt ist, die aus der christlichen Lehre abgeleitet wurden?«
Die Bewertung des Christentums aus jüdischer Perspektive reicht von einer negativen bis zu einer positiven Sichtweise. Die negative Sicht beurteilt das Christentum als Götzendienst, da es sich – aus dieser Perspektive – nicht um einen Monotheismus handelt. Die positive Sichtweise sieht in ihm eine Religion, durch die der Wille Gottes unter den Völkern der Welt verbreitet wird.
Bei der Bewertung des Christentums spielt das Verhalten der Kirchen und ihrer Mitglieder während des Holocausts eine wichtige Rolle. Das Versagen der Kirchen wird oft als ein Versagen der christlichen Religion gesehen. Eine weitere Rolle bei der Wahrnehmung des Christentums spielt auch jahrhundertelange christliche Judenfeindschaft, die »Lehre der Verachtung«.
Jüdische Reaktionen auf den Wunsch nach Begegnung oder Dialog reichen von Neugier und der Überzeugung, dass eine Begegnung zwischen den beiden Religionen notwendig sei, über Desinteresse bis hin zu Ablehnung. Zu den skeptischen Stimmen zählt der Stuttgarter Rabbiner Joel Berger. Neben anderen Argumenten ist es vor allem die Mission, die von manchen Christen unter den osteuropäischen jüdischen Zuwanderern betrieben wird, die ihn einen Dialog ablehnen lässt. Berger sieht in dieser Mission das Ausnutzen einer Notlage: »Und jetzt kommen die ›wohlmeinenden‹ christlichen Missionare und versprechen diesen armseligen, im Elend eines Lagers hausenden Menschen Jobs und Wohnungen, ›wenn ihr nur in unsere Gemeinschaft kommt, denn wir sind die echten Juden.‹ ... vor diesem Hintergrund kann es keinen Dialog geben.«
Belastend ist auch, dass manche Christen den Dialog suchen, um den verlorenen Zugang zur eigenen Tradition wieder zu finden. Berger schreibt: »Ich wurde ... oft gerufen, um aus jüdischer Sicht über die Bedeutung des Schabbat zu sprechen. Dabei kam ich mir allerdings nicht selten als Katalysator vor, der eingesetzt wurde, um Christen die Bedeutung des christlichen Sonntags, die ihnen abhanden gekommen war, wieder ›heimzuholen‹. ... Wir sind dazu nicht imstande, weder von der Anzahl noch von der Qualität her. Wir benötigen den andern. Aber wir können für die Kirchen nicht das sichern, was zu sichern sie selbst nicht imstande sind.« Aber auch diejenigen, die dem religiösen Gespräch gegenüber skeptisch sind, treten oft für gemeinsame soziale Aktivitäten ein.