Psychoanalytische Schulen im Gespräch Band 3 - Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung

Psychoanalytische Schulen im Gespräch Band 3 - Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung

 

 

 

von: Wolfgang Mertens

Hogrefe AG, 2012

ISBN: 9783456751382

Sprache: Deutsch

350 Seiten, Download: 2831 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Psychoanalytische Schulen im Gespräch Band 3 - Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung



1 Die klassische Bindungstheorie: John Bowlby, Mary Ainsworth


Sobald Bindungssicherheit vorherrscht, kann eine Erkundung der äußeren sowie der inneren Welt stattfinden

1.1 Charakterisierung


Die klassische Bindungspsychologie geht auf den britischen Psychoanalytiker John Bowlby zurück. Bowlby (1907 – 1990) wurde als viertes Kind eines in den Ritterstand erhobenen Londoner Chirurgen und einer bei seiner Geburt bereits 40-jährigen Mutter geboren. Bereits als kleines Kind wuchs er überwiegend mit Kindermädchen auf und wurde mit sieben Jahren mit Beginn des Ersten Weltkriegs in ein Internat geschickt, was vermutlich sein späteres Interesse für Bindungssicherheit im Kindesalter bedingte. Ab 1925 erfolgte ein Studium der Psychologie; anschließend engagierte er sich für sechs Monate als Lehrer an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder in London. Danach nahm er ein Medizinstudium mit der Absicht auf, Kinderpsychiater zu werden. Während dieser Zeit eröffnete er eine Sandwich-Bar («Bogeys Bar») und trat dem Londoner Institute of Psychoanalysis bei, in dem er eine Lehranalyse bei Joan Rivière, einer Freundin und Schülerin Melanie Kleins, absolvierte. Nach dem Abschluss des Medizinstudiums schloss er eine Ausbildung zum Erwachsenenpsychiater am Maudsley Hospital an, wurde 1936 an die London Child Guidance Klinik berufen und beendete 1937 seine Ausbildung zum Psychoanalytiker. Während des Zweiten Weltkriegs war er als Psychiater im Royal Army Medical Corps für die Auswahl von Offizieren zuständig. Von 1946 bis 1972 arbeitete er als beratender Kinderpsychiater und Direktor an der Tavistock Klinik für Kinder in London, die er in «Klinik für Kinder und Eltern» umbenannte, womit damals schon seine Überzeugung von der Wichtigkeit der Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder zum Ausdruck kam. Von 1950 bis 1972 beriet Bowlby die Weltgesundheitsorganisation hinsichtlich des Problems der psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Im Jahr 1952 erschien seine programmatische Schrift «Maternal care and mental health», die in 14 Sprachen übersetzt wurde. Von 1956 bis 1961 war er Vizepräsident der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft.

Unzufrieden mit der Metapsychologie von Sigmund Freud und seiner kleinianischen Lehranalytikerin Joan Rivière, die er im Rückblick als «eine ziemlich prüde, alte Jungfer» bezeichnete, und beeinflusst von den ethologischen Befunden von Niklas Tinbergen und Konrad Lorenz sowie davon überzeugt, dass man der von ihm als spekulativ empfundenen kleinianischen Metapsychologie ein empirisches Fundament geben müsse, entwickelte Bowlby die Idee einer Bindung, die unabhängig von der Libido entstehe und sich im Greifen, Schreien, Lächeln, zu einem Ziel hin bewegen sowie im Sich-Anklammern manifestiert. Ferner versuchte er, Aspekte der in den 50er- und 60er-Jahre populär gewordenen Kommunikations- und Systemtheorie in die Bindungsforschung zu integrieren.

Daraus erwuchs allmählich unter Mitarbeit von James und Joyce Robertson, Mary Ainsworth und anderen die Bindungstheorie. James Robertson, ein Sozialarbeiter und Psychoanalytiker, der zunächst bei Anna Freud gelernt hatte und später ein Mitarbeiter von Bowlby wurde, drehte den Film «A two-year-old goes to hospital», in dem die erschütternde Geschichte eines zweijährigen Mädchens gezeigt wurde, das nach einer Woche Krankenhausaufenthalt mit wechselnden Pflegepersonen in ihrem Vertrauen zu ihrer Mutter zutiefst verunsichert war. In einem späteren Film wurde ein Junge gezeigt, dessen Mutter ins Krankenhaus musste und der in der Zwischenzeit in der Obhut seines Vaters blieb und ebenfalls bei der Heimkehr seiner Mutter große Schwierigkeiten hatte, ihr vertrauen zu können.

Mary Salter Ainsworth, eine kanadische Psychologin, die zunächst beim Rorschach-Experten Bruno Klopfer in Toronto gelernt und zusammen mit ihm und Robert Holt ein Buch über die Weiterentwicklung des Rorschach-Tests veröffentlicht hatte, wurde vorübergehend Bowlbys Forschungsassistentin und führte alsbald kulturvergleichende Studien über die Mutter-Kind-Bindung in Uganda durch. Einige Zeit später entwickelte sie in Baltimore die mittlerweile legendäre Fremde Situations-Versuchsanordnung, die eine Einteilung des kindlichen Verhaltens in «sicher gebunden», «unsicher vermeidend gebunden» und «unsicher ambivalent gebunden» ermöglichte (ausführlicher Bretherton 1995, Dornes 2000, Holmes 2010).

Zwischen 1964 bis 1979 entstand Bowlbys monumentale Trilogie Attachment (1969), deutsch: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung (1969); Separation (1973), deutsch: Trennung. Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind (1976); und Loss (1980), deutsch: Verlust, Trauer und Depression (1983).

Wegen seiner von der Ethologie und Systemtheorie geprägten und radikal – vor allem von der kleinianischen – Psychoanalyse abweichenden Vorstellungen wurde Bowlby nahezu zwei Jahrzehnte vom psychoanalytischen Establishment ignoriert, bis er in den 80er-Jahren mit der Ernennung zum Freud Memorial Professor für Psychoanalyse am University College in London eine späte Rehabilitierung erfuhr.

Im Alter schrieb er eine beeindruckende Biographie über Charles Darwin (1990), in der er dessen körperliche Krankheiten als Spätfolgen seiner früh erlittenen Trennungstraumatisierungen beschrieb (Palombo et al. 2009).

Die Bindungsforschung wurde viele Jahre von der Psychoanalyse nicht zur Kenntnis genommen. Erst in den 90er-Jahren fanden nach und nach Diskussionen über ihre Bedeutung für die psychoanalytische Theorie und Praxis statt (in den USA z. B. Eagle 1995, 1996, 1997). Lotte Köhler, war eine der ersten Psychoanalytikerinnen in Deutschland, die die Bindungstheorie außerhalb der akademischen Entwicklungspsychologie für die Psychoanalyse bekannt gemacht hat (Köhler 1992, 1998).

Wie kam es, dass Bowlby sich mit seinen Ideen in der psychoanalytischen Fachwelt zunächst nicht so recht durchsetzen konnte? Gegenüber seiner Supervisorin Melanie Klein, die in triebtheoretischen Begriffen überwiegend das innere Drama eines kleinen Kindes thematisierte, betonte Bowlby die Wichtigkeit des tatsächlichen Verhaltens von Müttern ihren Kindern gegenüber, vor allem in Trennungssituationen. Im Gegensatz zu den klassischen Freudianern drang Bowlby auf eine Begrifflichkeit, die sich stärker am Verhalten des Kindes, am Sicht- und Zählbaren und weniger an den vermuteten und erschlossenen Phantasien des Kindes festmachen ließ. Mit seiner Vorstellung eines Bindungsverhaltensystems kam Bowlby auch dem in den 60er-Jahren verbreiteten ethologischen Denken entgegen, das hierzulande vor allem von Konrad Lorenz vertreten wurde. Damit setzte er mit seinem einfachen Konzept von instinktanalogen Bindungsvorgängen der vorherrschenden psychoanalytischen Auffassung eines komplizierten Ineinanders von konstitutionellen Gegebenheiten, Triebimpulsen, elterlichen Einflüssen und phantasiegesteuerten Verarbeitungen eine relativ simple Sichtweise entgegen. Die inneren Arbeitsmodelle des Kindes, die als Widerspiegelungen des Umgangs mit Bindungsimpulsen und Trennungserfahrungen entstehen, sind ihm zufolge nahezu wirklichkeitsgetreue Kopien, die an einfache Stimulus-Response-Modelle aus den Anfängen der behavioristischen Lerntheorien erinnern, und keine wunsch- und abwehrgetönten Repräsentanzen, wie wir sie aus der psychoanalytischen Trieb- und Objektbeziehungstheorie kennen. Es verwundert daher nicht, dass Bowlbys Auffassungen von seinen analytischen Kollegen als ein Verlassen des genuin psychoanalytischen Gedankengebäudes erlebt wurden, in dem die elterlichen Einflüsse immer nur in Form der verarbeiteten und triebhaft gestalteten inneren psychischen Realität eine maßgebliche Rolle spielen. Verwunderlich scheint deshalb eher das Unverständnis zu sein, mit der spätere bindungstheoretisch eingestellte Forscher auf die wenig begeisterte Rezeption seiner Auffassungen seitens psychoanalytischer Kollegen (Anna Freud 1960, Schur 1960, Spitz 1960) in London reagiert haben.

Umso größer war hingegen der Einfluss, den Bowlby auf die akademische Entwicklungspsychologie ausübte, die sich von jeher auf das sichtbare und leichter operationalisierbare Verhalten beschränkt hatte. Mary Ainsworth, Mary Main, das Ehepaar Grossmann in Deutschland und viele andere elaborierten die Gedanken Bowlbys, schufen neue Methoden, die Mutter-Kind-Interaktion zu studieren sowie bestimmte Bindungstypen zu klassifizieren und investierten ihren Forschungsfleiß vor allem in aufwendige Längsschnittstudien. Auch wenn die Datenlage nicht eindeutig ist, so zeigte sich doch, dass es einen Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr und sicherer Bindung mit zwölf Monaten beim Kind gab. Und ebenso ließen sich einigermaßen valide Vorhersagen über die weitere sozioemotionale Entwicklung, wie z. B. das Sozialverhalten im Kindergarten und Schulalter, treffen.

Konzentrierte sich die anfängliche Bindungsforschung vor allem auf das Verhalten von Kindern in der «Fremde Situation» und auf das Interaktionsverhalten der Mütter in Form ihrer Feinfühligkeit sowie anschließend auf die Untersuchung der symbolischen Repräsentationen «sicher» und «unsicher» klassifizierter Kinder anhand von Geschichten-Ergänzungstests, so erfolgte in einem weiteren Schritt die Untersuchung der Repräsentationen von Müttern und Vätern (vgl. Dornes 1998). Mithilfe des Erwachsenen Bindungs-Interviews von Mary Main und Mitarbeitern konnten die Bindungsrepräsentationen der Eltern auf differenzierte Weise bestimmt werden. Somit konnte auch der Einfluss der elterlichen Bindungsrepräsentationen auf die Bindungsqualität des Kindes...

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