Chronische Depression

Chronische Depression

 

 

 

von: Eva-Lotta Brakemeier, Elisabeth Schramm, Martin Hautzinger

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840921339

Sprache: Deutsch

97 Seiten, Download: 1104 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Chronische Depression



1.5 Differenzialdiagnose

Folgende psychiatrische Erkrankungen gehen häufig mit (chronischen) Depressionen einher und sollten in der klinischen Untersuchung, der Anamneseerhebung und der Diagnostik daher besondere Aufmerksamkeit erhalten:

• Suchterkrankungen (Missbrauch und Abhängigkeit),
• hirnorganische Erkrankungen, z . B . (beginnende) Demenzen,
• posttraumatische Belastungsstörung,
• Schizophrenie, insbesondere schleichende Verläufe wie bei der Schizo phrenia simplex und schizophrene Residualzustände sowie schizoaffek tive Erkrankungen,
• Somatisierungsstörung, • Autismus .

Suchterkrankungen: Hinweise auf eine Abhängigkeitserkrankung können neben der systematischen Exploration Blut-, Atemund Urinanalysen auf Alkohol, Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial und Drogen sowie typische Laborveränderungen liefern . Bei Evidenz für eine Abhängigkeitserkrankung sollte während der systematischen Exploration vor allem der zeitliche Verlauf beider Störungen erfragt werden: Wenn das depressive Syndrom bzw . die depressiven Symptome nur zeitgleich mit der Abhängigkeitserkrankung aufgetreten sind (bzw . nach einem Rückfall), sollte eher die Abhängigkeitserkrankung behandelt werden, wenn das depressive Syndrom auch unabhängig auftritt, scheint dies die primäre Diagnose zu sein, die behandelt werden sollte .

Hirnorganische Erkrankung: Die gezielte Untersuchung kognitiver Funktionen wie z . B . Altund Neugedächtnis, Merkfähigkeit, Orientierung, Konzentration und Abstraktionsvermögen im Rahmen der psychopathologischen Befunderhebung liefert Anhaltspunkte für eine mögliche hirnorganische Erkrankung, denen dann durch gezielte testpsychologische und apparative Diagnostik weiter nachzugehen ist . Eher für eine depressive Pseudodemenz als für eine beginnende Demenz sprechen u . a . eine Aggravierungsneigung und Selbstvorstellung des Patienten bezüglich der kognitiven Defizite (Demenz: Dissimulation und Vorstellung durch die Angehörigen), gleichermaßen beklagte Defizite in Kurzund Langzeitgedächtnis (beginnende Demenz: überwiegend Kurzzeitgedächtnisstörungen), plötzlicher Beginn der kognitiven Defizite (Demenz: schleichend) und eine eher unmotiviert oder wenig kooperativ erscheinende Auskunftsverweigerung („Ich weiß nicht .“; Demenz: Versuch, die vorhandenen Defizite wortreich zu überspielen) .

Posttraumatische Belastungsstörung: Die posttraumatische Belastungsstörung grenzt sich von (chronisch) depressiven Erkrankungen zum einen durch den Beginn nach einem traumatischen Ereignis mit schwerer außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß ab und zum anderen durch spezifische Symptome wie Nachhallerinnerungen (Intrusionen), Vermeiden aller an die auslösende Situation erinnernder Stimuli, allgemein erhöhte Schreckhaftigkeit, Alpträume und das anhaltende Gefühl emotionaler Abgestumpftheit .

Autismus: Auch können Menschen mit leichteren Formen des Autismus durch eine ähnliche Form einer Beziehungsund Kommunikationsstörung chronisch depressiv anmuten . Hier geben neben einer ausführlichen Autismus-Diagnostik v . a . Explorationen über die Kindheit meist Aufschluss, da autistische Kinder bereits früh durch extreme Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung und Beziehungsgestaltung auffallen .

Diese differenzialdiagnostische Klärung muss bereits im Rahmen einer Basisdiagnostik erfolgen . Da die diagnostische Einschätzung auch bei gründlicher Untersuchung schwierig sein kann und damit teilweise vorläufig bleibt, sollte im Rahmen eines systematisierten Vorgehens die Differenzialdiagnostik im Rahmen der erweiterten Diagnostik nach mangelhaftem Ansprechen auf Therapieversuche – also nach therapieresistentem Verlauf – wiederholt werden . Dies ist insbesondere bei progredienten Erkrankungen wie den Demenzen sinnvoll, deren Diagnose mit Fortschreiten der Erkrankung einfacher wird, oder bei Krankheiten, deren Symptome von vielen Patienten erst nach der Entwicklung eines gefestigten Vertrauensverhältnisses zum Behandelnden berichtet werden (z . B . Abhängigkeitserkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen) .

1.6 Komorbidität

Chronische Depressionsformen treten häufig zusammen mit anderen Störungen auf . Als häufig komorbid auftretende Erkrankungen gelten (nach Angst et al ., 2009):
• Soziale Phobie, Panikstörung und Agoraphobie,
• Abhängigkeitserkrankungen (insb . Alkoholmissbrauch und Missbrauch von Benzodiazepinen),
• Essstörungen,
• Persönlichkeitsstörungen .

Insgesamt ist davon auszugehen, dass ca . 50% aller chronisch depressiven Patienten auch Persönlichkeitsstörungen aufweisen . Nach einer Untersuchung leiden 46 % der ambulanten Patienten mit chronischer Depression (einschließlich Doppelter Depression) komorbid an mindestens einer und 21 % an mindestens zwei Persönlichkeitsstörungen . Am häufigsten (zu 39 %) treten hierbei Diagnosen der selbstunsicheren, dependenten und zwanghaften Persönlichkeitsstörung auf . Die Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen tritt bei chronischen Formen der Depression signifikant häufiger auf als bei episodisch verlaufenden Depressionen . Dies zeigt sich vor allem bei frühem Erkrankungsbeginn der chronischen Depression (Klein & Santiago, 2003) . Erste Studien im stationären Setting weisen darauf hin, dass in diesem Setting der Prozentsatz an chronisch Depressiven mit Persönlichkeitsstörungen erheblich höher als 50 % ist (Brakemeier et al ., 2011) . Auch körperliche Komorbiditäten liegen bei chronischen Verlaufsformen der Depression häufiger vor als bei episodischer Depression, hierbei treten vor allem Herzund Atemwegserkrankungen, Schlafund Schmerzstörungen auf (Angst et al ., 2009) .

1.7 Diagnostische Verfahren und Dokumentationshilfen

Bezüglich der episodischen oder akuten Depression stehen zur Störungsdiagnostik, zur Beurteilung des Schweregrads der Störung, zur Dokumentation des Verlaufs bzw . der Veränderungen und zur Diagnostik assoziierter Merkmale zahlreiche reliable und objektive Messinstrumente, strukturierte bzw . standardisierte Interviews, psychologische Tests, Fragebögen und Skalen sowie Selbstund Fremdbeurteilungsbögen zur Verfügung (vgl . Hautzinger & Meyer, 2002; Hautzinger, 2010) . Für die Diagnostik der chronischen Depression ist es darüber hinaus besonders wichtig, den Verlauf der Störung über das gesamte Leben zu erfassen, wofür sogenannte „Lifecharts“ (vgl . Kap . 3 .1) erstellt werden . Tabelle 3 gibt eine Übersicht über häufig im Rahmen der Depressionsbehandlung eingesetzte diagnostische Verfahren, wobei die kursiv gedruckten Verfahren speziell zur Diagnostik chronischer Depressionen empfohlen werden . In Kapitel 3 .1 werden weitere konkrete Empfehlungen für eine minimale „Alltagsdiagnostik“ bzw . die im Rahmen von Gutachterverfahren zu verwendende Instrumente gegeben .

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