Handbuch Partizipation und Gesundheit

Handbuch Partizipation und Gesundheit

 

 

 

von: Rolf Rosenbrock, Susanne Hartung

Hogrefe AG, 2012

ISBN: 9783456950457

Sprache: Deutsch

451 Seiten, Download: 4295 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Handbuch Partizipation und Gesundheit



Während alle Beiträge zur Rolle der Entscheidungsteilhabe in Prävention und Gesundheitsförderung die Notwendigkeit starker, direkter Partizipation der Zielgruppen (und der Professionals) betonen, werden doch vor allem hemmende Bedingungen herausgearbeitet, die die – auch gesundheitliche – Wirksamkeit deutlich einschränken. Dies verweist zum einen auf den zentralen Stellenwert der politischen Bedingungen für den Erfolg solcher Projekte. Sollen diese Defizite vermindert werden, dann sind dies eben keine ‚Rahmen‘-Bedingungen, sondern es muss die V eränderung dieses ‚Rahmens‘ selbst Gegenstand der Intervention und der Präventionspolitik werden. Zum anderen ergibt sich aus den Beiträgen weiterer Forschungsbedarf, v.a. im Hinblick auf die Möglichkeiten und Folgen der V eränderung von Projektkontexten, aber auch hinsichtlich spezifischer Wirkungen unterschiedlicher Typen und Stufen der Partizipation. Zudem wird deutlich, dass die Planung und Durchführung partizipativer Prävention und Gesundheitsförderung eine bestimmte Haltung der beteiligten Professionals erfordert, die Anja Dieterich und Daphne Hahn in ihrem Beitrag mit den Stichworten Empathie und Solidarität umrissen haben.

Im dritten Teil des Buches geht es um Partizipation im Umgang mit Krankheit, also um V oraussetzungen, Formen und Bedeutung von Entscheidungsbeteiligung im Umgang mit Krankheit und insbesondere innerhalb der Krankenversorgung in Medizin, Psychiatrie, Pflege, Rehabilitation und Palliativversorgung. Gesundheitswissenschaftlich unstrittig ist heutzutage, dass Gesundheitsförderung im Sinne der Entwicklung und Steigerung gesundheitsdienlicher Ressourcen (Selbstwertgefühl, Selbstachtsamkeit, Selbstwirksamkeit, Einbindung in soziale Netze und Gesundheitskompe tenz) ein nicht nur hilfreicher, sondern notwendiger Teil der Krankenversorgung ist. Partizipation in der Krankenversorgung ist damit wesentlich mehr als Konfliktvermeidung und V erbesserung der Adhärenz. Bettina Schmidt unterzieht die optimistische Hypothese vom Wert der Entscheidungsbeteiligung einer kritischen Überprüfung und geht der Frage nach, ob insbesondere Menschen aus beengten Soziallagen wirklich mehr Partizipation in der Krankenversorgung wollen und was insgesamt die V oraussetzungen für die erwünschten, positiven Wirkungen sind, vor allem dann, wenn Partizipation nicht unter Idealsondern – wie sie es nennt – unter Realbedingungen stattfindet. Einer Forderung nach Entscheidungsteilhabe aller und jederzeit, hält Schmidt die These entgegen, dass Betroffene nicht immer Entscheidungsteilhabe präferieren und diese gern auch delegieren. Belege und Gründe dafür findet sie in empirischen Studien, die bspw. auf eine Angst vor zu verantwortenden Fehlentscheidungen aufgrund selektiver oder ungenügender Informationen hinweisen oder die den nicht zu verurteilenden Wunsch nach Beruhigung durch Nichtwissen darlegen. Schmidt fragt auch nach den vielen Faktoren, die ein (Mit-)Entscheiden-Wollen und (Mit-) Entscheiden-Können bedingen, und zeichnet dabei ein komplexes Bild von Bedingungen bzw. Voraussetzungen für Partizipation. Entgegen unserer These, dass Partizipation auch Gesundheitsressourcen verbessert, verweist die von ihr angeführte Empirie zur Partizipation im Bereich der kurativen Medizin zwar z.B. auf bessere kooperative Kommunikation, aber nicht durchgängig auf Stärkung von Gesundheitsressourcen. Insgesamt kommt sie zu dem kritischen Schluss, dass nicht alle Menschen – auch unter dafür förderlichen Bedingungen – immer partizipieren wollen. Deshalb erscheint es für sie unerlässlich, neben der Forderung nach mehr Partizipation auch Strategien zur Akzeptanz von Entscheidungsdelegation, V erständnis für Entscheidungsdiffusion und angemessene anwaltschaftliche Entscheidungsübernahme zu entwickeln und zu implementieren.

Die aus dem Unmut von Patient/innen bzw. ‚Lai/innen‘ gegenüber der Dominanz medizinischer Expert/innen und den Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht im Versorgungssystem entstandenen Selbsthilfegruppen bildeten – zusammen mit den Gesundheitsläden – den organisatorischen Kern der aus der 68erBewegung hervorgegangenen Gesundheitsbewegung. Nach anfänglicher Ablehnung durch die etablierten Akteur/innen des Gesundheitswesens sind sie mittlerweile anerkannt und werden öffentlich gefördert. Damit beschäftigen sich Alf Trojan, Christopher Kofahl und Stefan Nickel. Partizipation findet sich in der Selbsthilfe sowohl als Beteiligung und Teilhabe in den Gruppen selbst als auch als Teilhabe an der kontinuierlichen Gestaltung und V eränderung des Gesundheitssystems und seiner Strukturen. Bei allen Fortschritten, die Selbsthilfegruppen auf der gesundheitspolitischen Ebene für die Qualitätssicherung mit Beteiligung von Patient/innen erzielt haben, stellen die Autoren fest, dass es immer noch eine große Kluft zwischen der programmatisch geforderten und der tatsächlich realisierten Partizipation gibt. So lässt sich die Aussage treffen, dass das Potential zur Gesundheitsund Gesundheitssystemverbesserung durch die Teilhabe bzw. die Beteiligung von Selbsthilfegruppen an Entscheidungsprozessen auf der Mikro-, Mesound Makroebene noch bei Weitem nicht ausgeschöpft ist.

Die V oraussetzungen von Partizipation in der Krankenversorgung v.a. für sozial Benachteiligte zu verbessern, ist die Aufgabe der ‚Unabhängigen Patientenberatung Deutschland‘ (UPD, seit 2001 im Modellversuch, seit 2011 als Regelleistung der GKV). Marie-Luise Dierks und Doris Schaeffer kommen im Hinblick auf die Frage, inwieweit – von professionellen und kommerziellen Interessen tatsächlich unabhängige – Beratungsangebote zu allen Fragen von Gesundheit und Krankheit die Autonomie bzw. Selbstbestimmung von Patient/innen, V ersicherten und Bürger/innen stärken können, zu einem positiven Schluss. Die Patientenberatung kommt dabei gerade bei Menschen mit niedrigem sozialem Status dem Bedürfnis nach persönlicher Beratung (was mehr ist als Information) entgegen und hat damit das Potential, ihre Entscheidungsteilhabe im Gesundheitswesen und ihre Gesundheitskompetenzen zu stärken. Die Autorinnen beto nen allerdings auch, dass die Beratungslandschaft einerseits noch große weiße Flecken aufweist und andererseits mittlerweile so vielfältig und unübersichtlich geworden ist, dass es schwierig ist, den selbstgewählten Anspruch nach mehr Transparenz wirklich einzulösen.

David Klemperer geht es – gewissermaßen aus der entgegengesetzten Blickrichtung – um die Frage, welche V erbesserungen in Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversorgung zu erzielen wären, wenn die/der ‚mündige Patient/in‘ im Rahmen partizipativer Entscheidungsfindung eine rational begründete medizinische Versorgung einfordern könnte und wollte. Die Ergebnisse sind quantitativ und qualitativ beachtlich. Der Medizinbetrieb (als Konglomerat von Industrie, Forschung, Ausbildung, Medien etc.) und die Mediziner/innen tendieren – anreizgerecht – dazu, mehr zu tun, als notwendig und unschädlich wäre. Zudem halten sie oft allzu lang an überholten Methoden und Schemata fest. Transparenz über Therapieoptionen und Partizipation der Patient/innen könnte dieser Tendenz zur Unter-, Überund Fehlversorgung entgegenwirken. Der Beitrag konzentriert sich auf die Darstellung der vorfindlichen Missstände, die Voraussetzungen ‚echter‘ Patientenpartizipation sowie die absehbaren – erwünschten und unerwünschten – Wirkungen, die gleichfalls kurz gestreift werden. Birgit Babitsch und Giselind Berg untersuchen auf Basis internationaler Studien genderspezifische Unterschiede in Entscheidungsprozessen der Krankenversorgung. Ausgangspunkt ist die Frage, was von den Forderungen der Frauengesundheitsbewegung nach mehr Entscheidungsbeteiligung von Frauen in der Krankenversorgung als realisiert gelten kann und welchen Stellenwert diese Forderungen heute noch haben können. Patientinnen berichten Ärzt/innen mehr als Männer über ihre Erkrankung und erwarten auch mehr Informationen. Ärztinnen zeigen öfter als Ärzte partnerschaftliche Kommunikation. Entsprechend dauern Ärztin-Patientin-Kontakte länger als Arzt-Patient-Kontakte, geschlechterheterogene Kommunikation misslingt besonders häufig. Frauen suchen insgesamt häufiger nach krankheitsbezogenen Informationen und bevorzugen dabei häufiger persönlich kommunizierte Informationen statt z.B. internetbasierter Informationen. Auch unterscheiden sich Männer und Frauen im Hinblick auf den Wunsch nach Entscheidungsbeteiligung und partnerschaftlichem Behandlungsstil. Die Autorinnen kommen auf Basis der nicht immer konsistenten Forschungslage zu dem Ergebnis, dass bei der Anpassung des Versorgungssystems an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten die Kategorie Gender neben denen der sozialen Lage eine größere Rolle bei der Erforschung von Defiziten und den Maßnahmen zu ihrer Verringerung spielen sollte.

Jörg Dirmaier und Martin Härter stellen das Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung (PEF) als einen spezifischen Interaktionsprozess vor, der mit dem Ziel verbunden ist, auf der Basis geteilter Informationen zu einer letztlich gemeinsam von Patient/innen und Ärzt/innen getragenen medizinischen Entscheidung zu kommen. Das Konzept verbindet Komponenten des paternalistischen und des Informationsmodells. Besonders geeignet ist es für Entscheidungssituationen, in denen mehr als eine evidenzbasierte Therapieoption zur Wahl steht und die Präferenzen der Patient/innen einbezogen werden sollen bzw. müssen. Dirmaier und Härter erläutern die praktische Umsetzung von PEF anhand von Beschreibungen zum Ablauf und von Einsatzbereichen. Sie beschreiben zudem den Transfer in die Praxis anhand von Fortbildungsmaßnahmen, medizinischer Entscheidungshilfen und Patientenschulungen. Die wenigen bisher durchgeführten Studien zur Wirksamkeit von PEF, bestätigen die vermuteten positiven Effekte wie höhere Gesundheitskompetenz von Patient/innen, höhere Patientenzufriedenheit und angemessenere Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Allerdings haben Patient/innen aus den unteren sozialen Schichten größere Probleme beim Erwerb von Gesundheitskompetenzen.

Isabel Gareus und Heinz-Harald Abholz unternehmen in ihren Ausführungen zur Partizipation in der hausärztlichen Praxis zunächst den Versuch einer Typologie von Entscheidungssituationen mit je unterschiedlichen Implikationen für die Motivation aller Beteiligten zur und die Gestaltung von – empirisch nicht leicht zu untersuchender – Entscheidungsteilhabe. Dies, wie auch Überlegungen zur Ethik, verweist auf die Notwendigkeit der Differenzierung je nach Patient/in und Krankheitssituation. „Die Kunst besteht infolgedessen darin, der/die Patient/in in dem Maße zu partizipativer Beteiligung anzuregen, die nicht nur ihrem Willen und ihrer Persönlichkeit entspricht, sondern auch die aktuelle Entscheidungssituation berücksichtigt“, wie die Autor/innen schreiben. Damit bleibt die Definition dessen, was jeweils ‚angemessene Partizipation‘ ist, in der Definitionsmacht der Ärzt/in. Das ist sicherlich paternalistisch, aber es fällt trotzdem schwer, dieser Sichtweise zu widersprechen. Zu fragen bleibt allerdings, welche V oraussetzungen Ärzt/innen mitbringen, um diese Definitionsmacht jeweils im Sinne der Patient/innen zu nutzen.

Medizinische Sekundärprävention als Früherkennung, um den Diagnosezeitpunkt vorzuverlegen und so den Therapiebeginn optimal terminieren zu können, hat es dem gegenüber durchweg mit subjektiv symptomlosen Menschen zu tun. Frauke Koppelin fragt nach der ‚Rolle informierter Entscheidungsfindung bei Inanspruchnahme von Screenings‘. Information über möglichen Nutzen und Schaden ist dabei sicherlich eine notwendige, aber ebenso sicherlich auch keine hinreichende Bedingung eines aufgeklärten Patienten-/V ersichertenverhaltens, wie es David Klemperer vorschwebt. Aber schon auf dieser Ebene findet die Autorin beachtliche Hindernisse: Am Beispiel der Informationen zum Screening auf MammaKarzinom und der IGeL-Leistung PSA-Test (zur Früherkennung des Prostata-Karzinoms) zeigt sie, wie stark medizin-kulturelle und kommerzielle Interessen den Zugang zu den Fakten erschweren. V erstärkt wird dies, weil die Suggestionen relevanten individuellen Nutzens aus der Teilnahme am Screening trefflich mit Ängsten und Selbstbildern der Teilnehmer/innen interagieren.

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