Sportsozialarbeit - Strukturen, Konzepte, Praxis

Sportsozialarbeit - Strukturen, Konzepte, Praxis

 

 

 

von: Heiko Löwenstein, Birgit Steffens, Julie Kunsmann, Rudolf Bieker

Kohlhammer Verlag, 2020

ISBN: 9783170357235

Sprache: Deutsch

209 Seiten, Download: 3105 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sportsozialarbeit - Strukturen, Konzepte, Praxis



2          Sporttreiben und Sportorganisation


 

 

 

Was Sie in diesem Kapitel lernen können


In diesem Kapitel werden die Bedeutung und Ausbreitung von Sport als gesellschaftlichem Teilsystem in Deutschland dargelegt und ein Einblick in zentrale Sportfelder gegeben. Der Bereich des organisierten Sports, des Schulsports, des informellen Sports und des kommerziellen Sports werden unter Berücksichtigung der Relevanz für die Sportsozialarbeit beleuchtet. Darüber hinaus werden Praxisangebote, die auf sozial(pädagogisch)e Zielsetzungen ausgerichtet sind, präsentiert.

2.1       Sportverständnis


Sport in Deutschland stellt heute neben Kultur, Medien, Gesundheit, Bildung und anderen Sektoren einen eigenen Gesellschaftsbereich mit hoher gesellschaftlicher Relevanz dar. Ein individuelles Sportverständnis, die Ausdifferenzierung an Sportarten und die Nutzung unterschiedlicher Sporträume führen zu einer kaum überschaubaren Vielfalt bewegungskultureller Phänomene und Kontexte.

Zur Entwicklung des Sports haben vielfältige gesellschaftspolitische Strömungen beigetragen, die hier nur in einem kurzen Abriss dargestellt werden können. So kann insbesondere die Bedeutung des Sports in der Zeit des Nationalsozialismus, die u. a. zu einer sportorganisatorischen Zersplitterung und massiven Veränderung des Wertesystems geführt hat, aufgrund seiner Komplexität im Folgenden nicht behandelt werden (dazu u. a. Teichler, 2010; Luh, 2010).

Im 18. und 19. Jahrhundert beeinflussten v. a. Entwicklungen in Deutschland und England den Prozess. In Deutschland waren es zunächst reformpädagogische Ansätze der Philanthropen, wie u. a. Gutsmuths (1759–1839), Salzmann (1744–1811) und Basedow (1724–1790). Sie werden noch heute als »Wegbereiter einer modernen Theorie der Leibeserziehung« (Krüger, 2009, S. 52) gesehen, weil sie erstmalig die Idee einer ganzheitlichen Erziehung durch Bewegung in Form von gymnastischen Leibesübungen vertraten. Daran anschließend entwickelte sich die Turnbewegung um Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), welche als Ursprung des außerschulisch organisierten Breitensports und des Vereinswesens gesehen werden kann (Krüger, 2010, S. 175ff; kritisch zu Jahn: Dueding, 1978; Schnitzler, 2003). Parallel dazu setzte sich in England mit der Einführung sportlicher Wettkämpfe ein Gegenstück zum Turnen und zur Gymnastik durch. War Sport in England bis dato als exklusive Freizeitbeschäftigung dem Adel und der Oberschicht vorbehalten, führten gesellschaftspolitische Widerstände zu einer Ausbreitung des Sports in bürgerlichen Kreisen (Eisenberg, 2010, S. 181ff). Der auf die englische Tradition von Sports and Game zurückgehende Universalbegriff Sport hat sich bis heute durchgesetzt (Krüger, 2008, S. 58). Im Laufe der Zeit hat Sport einen Differenzierungsprozess durchlaufen mit der Folge, dass immer mehr körperliche Aktivitäten unter dem Begriff Sport subsumiert werden und das Begriffsverständnis von Sport zu einer diffusen Vielfalt geworden ist. Nach Krüger (2008, S. 58) ist »›Sport‹ […] als Gegenstandsbegriff nur dann geeignet, wenn er alle historisch gewordenen sowie sozial und kulturell geformten Inhalte von körperlichen Spielen und Übungen mit einschließt.« Als Einflussfaktor auf den Wandel von Sport ab dem 20. Jahrhundert gilt aus soziologischer Perspektive v. a. die Individualisierung:

»Bedeutung, Form und Inhalt des zeitgenössischen Sports sind Resultat des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses« (Gugutzer, 2008, S. 88).

Kennzeichnend für diesen Prozess waren u. a. eine Pluralisierung von Lebenswelten durch den Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaats, die Freisetzung aus traditionellen (Geschlechter-)Rollen, ein gesteigertes individuelles Leistungsdenken, ein Wandel von gesellschaftlichen Grundwerten und die Hinwendung zum Hedonismus (ebd.; auch Bette, 1999, S. 150ff; vertiefend zur Individualisierungsdebatte: Beck, 1986). Der Einfluss des Individualisierungsprozesses auf den Sport wird auf unterschiedlichen Ebenen festgestellt. Zum einen wird der Leistungsindividualismus hervorgehoben, der im Wettkampf-, Leistungs- und Hochleistungssport ein optimales Handlungsfeld findet (Bette, 2001, S. 95). Zum anderen benennt Gugutzer weitere Veränderungen, die sich im Zuge der Individualisierung für den Sport ergeben haben. Der Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaats und ein damit verbundener erhöhter Lebensstandard ermöglichten vielen Menschen den Zugang zum Sport:

»Denn erst ein gewisses Maß an materiellem Lebensstandard ermöglicht es z. B. teure Sportkleidung oder Mitgliedschaftsbeiträge […] bezahlen zu können, wie auch erst ein entwickelter Sozialstaat die infrastrukturellen und ökonomischen Bedingungen schafft, damit kranke und behinderte Menschen […] Sport betreiben können« (Gugutzer, 2008, S. 92).

Diese Entwicklung war auch für den Ausbau des organisierten Sports unter dem Slogan »Sport für Alle« von hoher Bedeutung. Damit einher ging die Ausdifferenzierung des Sportbegriffes und die Pluralisierung an Sportarten und Organisationsformen, welche Bette (2001, S. 100) als »Einheit der Vielheit« beschreibt. Im Laufe der Zeit sind eine Vielzahl an Typen sportlichen Handelns entstanden, u. a. Freizeitsport, Gesundheitssport, Trend- und Abenteuersport, Risikosport oder Mediensport (Heinemann, 2007, S. 55). Neben der Entstehung einer begrifflichen Vielfalt und Ausdifferenzierung führt die Pluralisierung von Sportformen und -organisationen zu einer neuen Sportlichkeit. Sportsoziologen sprechen von einem »Wertewandel« des Sports (Digel, 1990). Der sogenannte »alte Sportgeist« war von Worten wie Fairness, Leistung, Wettkampf, Kameradschaftlichkeit und Vereinsbindung begleitet (ebd.). Zwar existieren diese Bedeutungen auch heute noch, jedoch ist das Sportverständnis laut Grupe heute zudem an individualistischen und hedonistischen Werten, wie z. B. dem Genuss, der Erfüllung, der Ungebundenheit und der Abwechselung, orientiert (Grupe, 2003, S. 7f). Ein weiteres Merkmal individualisierter Bewegungspraxen ist die Aufwertung des eigenen Körpers.

Resultat dieser Ausdifferenzierungen ist, dass heute kaum mehr erfasst werden kann, was unter Sport eigentlich zu verstehen ist und was den modernen Sport ausmacht.

»Semantisch und logisch kaum haltbare Gegensatzpaare wie Freizeit- contra Wettkampfsport oder Leistungssport contra Breitensport, unscharfe Begriffe wie Körper- oder Bewegungskultur haben dabei fragwürdige Auswirkungen bis hinein in die meist ideologisch geprägten Antwortvorgaben, wenn es um die empirische Erfassung von Sportangeboten, Motiven oder Interessen […] geht« (Digel, 1995, S. 143).

Trotz dieser offenkundigen Vielfalt haben sich einige Begrifflichkeiten allgemein durchgesetzt.

•  Breitensport ist sowohl der Sport, der mehrheitlich in Amateurligen der Sportvereine wettkampfmäßig organisiert wird, als auch der Sport in den Vereinen, der nicht wettkampfmäßig organisiert ist und häufig als organisierter Freizeitsport bezeichnet wird (Cachay & Thiel, 2000, S. 115).

•  Freizeitsport ist ein Sammel- und Oberbegriff für vielfältige Erscheinungsformen von Sport in Abgrenzung zum Leistungs- und Hochleistungssport. Unter Freizeitsport können auch z. B. Breitensport, Gesundheitssport, Spaßsport verstanden werden (Dieckert, 2003, S. 205f).

•  Gesundheitssport beinhaltet die Förderung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von physischer und psychischer Gesundheit mithilfe von Gesundheitssportprogrammen und lässt sich in die Bereiche Gesundheitsförderung, Präventionssport, Sporttherapie, Rehabilitationssport untergliedern (Bös & Brehm, 2006).

•  Leistungssport ist dadurch gekennzeichnet, dass die Erbringung von wettkampfbezogenen (körperlichen) Leistungen mit hohem Trainingsaufwand im Vordergrund steht. Sportliches Handeln wird dabei entweder am Ziel der Leistungssteigerung, am Sieg oder an einer Kombination beider ausgerichtet (Emrich, 2003, S. 343).

•  Hochleistungssport richtet sich an internationalen Rekorden aus und zielt darauf ab, die eigene Leistung an Normen der international gültigen Wettkampfklassen auszurichten (Anders, 2008, S. 309).

Nach Franke (1978, S. 140) bekommt eine sportliche Handlung ihre Bedeutung erst durch die Zuschreibung seiner Handelnden und die Einbettung in einen jeweiligen Kontext. Sport wird demnach als ein soziales Konstrukt betrachtet. Heinemann greift diesen Gedanken auf und beschreibt, dass Sport für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben kann, die sich im Laufe der Zeit und auch kulturbedingt stetig wandeln...

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