Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur - Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven

Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur - Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven

 

 

 

von: Olaf Groh-Samberg

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531914008

Sprache: Deutsch

295 Seiten, Download: 2684 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur - Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven



6 Die Struktur der Armut – Zur Interaktion von Multidimensionalität und Zeitlichkeit (S. 145-146)

Im Folgenden wird es darum gehen, die Interaktionen von Einkommens- und Lebenslagenarmut in der Zeit zu analysieren. Erst eine solche kombinierte Betrachtung der Multidimensionalität und Dynamik von Armut erlaubt Aussagen über den Grad der Strukturierung oder Entstrukturierung der Armut. Ein hoher Grad der Strukturierung von Armut wäre gegeben, wenn Einkommens- und Lebenslagenarmut sich bei einer kleinen Bevölkerungsgruppe konzentrieren, also eine Minorität von dauerhaft multiplen armen Personen einer Majorität von dauerhaft und konsistent nichtarmen Personen gegenübersteht.

Ein hoher Grad der Entstrukturierung wäre umgekehrt dann gegeben, wenn Einkommens- und Lebenslagenarmut sich über einen großen Anteil der Bevölkerung in eher zufälliger Weise verteilen, das heißt, wenn ein hoher Anteil von Personen nur kurzfristig und/oder nur in inkonsistenter Weise von Einkommens- oder Lebenslagenarmut betroffen ist. Bildlich gesprochen, geht es also um die Frage, wie sich das „Gesamtvolumen" an Einkommens- und Lebenslagenarmutsepisoden auf die betrachtete Längsschnittpopulation verteilt: trifft (resp. verschont) es immer wieder dieselben Personen, oder streut es relativ gleichförmig über die gesamte Bevölkerung.

Diese bildliche Redeweise hinkt freilich insofern, als dass Armut sich gerade nicht, wie der Wohlstand, als ein Kuchen vorstellen lässt, der mehr oder minder ungleich verteilt werden kann. Mit den beiden verschiedenen Szenarien verändert sich vielmehr der soziologische Gehalt des Armutsbegriffs. Das „klassische" Armutsverständnis setzt die innere Strukturiertheit von Armut voraus. Nur als dauerhafte und multiple Benachteiligung und Deprivation entfaltet Armut ihre ausgrenzenden und die Gesellschaft spaltenden Effekte, die traditionell mit dem Armutsbegriff assoziiert werden. Kurzzeitige und inkonsistente Armut entfaltet dagegen eher Effekte der allgemeinen Verunsicherung und der Prekarisierung.

Das Szenario der Entstrukturierung zielt damit, wie die Bremer Armutsforschung herausarbeitet, auf eine individualisierte Risikogesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten immer weniger entlang von Gruppenzugehörigkeiten strukturiert werden. Neue „Risse" entstehen dafür entlang von Lebenslaufrisiken und entlang der sich immer stärker entkoppelnden und funktional differenzierenden Lebensbereiche. Verzeitlichung und Status- Inkonsistenzen sozialer Ungleichheit sind die Folge. Die beiden stilisierten Szenarien der Strukturierung und der Entstrukturierung arbeiten jedoch gleichermaßen mit einer dichotomen Unterscheidung von Armut und Nichtarmut, die im einen Fall das eindeutige Bild sozialer Spaltung, im anderen das „postmoderne" Bild eines Neuarrangements von Gegensätzen im individualisierten Lebenslauf erzeugt.

Demgegenüber ist gerade in einer kombinierten Betrachtung systematisch mit den Erscheinungsformen der Prekarität zu rechnen. In der Literatur zu Armut und Exklusion ist das Thema der Prekarität zunächst nur zögerlich aufgenommen worden. Bei Werner Hübinger (1996) wie auch bei Robert Castel (2000) meint die Zone des „prekären Wohlstands" oder der „Vulnerabilität" die Grauzone zwischen Armut und Wohlstand, also das prekäre Leben an der Grenze zur Armut. In den zeitdiagnostischen Beobachtungen vieler Feuilletons, und etwas überraschend auch bei Pierre Bourdieu (1998), steht die ubiquitäre „Prekarisierung" und das neue „Prekariat" dagegen eher für die soziale Entgrenzung neuer sozialer Risiken, die sich einem diffusen Prozess von Individualisierung und Globalisierung verdankt.

Das noch unklare und umstrittene Bild der Prekarität enthält also von beiden Szenarien etwas. Es steht einerseits für ein ungleichheitssoziologisch differenzierteres Bild der Armut, andererseits für ein sozialkritisch radikalisiertes Bild der individualisierten und entsicherten Risikogesellschaft. Die Strukturanalyse von Armut liefert damit einerseits Antworten zu den Fragen der zeitdiagnostischen und gesellschaftstheoretischen Interpretation der Armut, und trägt zu einer Klärung und Konkretisierung des Verhältnisses von Armut und sozialer Ungleichheit bei. Aus der Strukturanalyse von Armut heraus lässt sich zugleich ein Messkonzept bzw. ein Indikator entwickeln, der zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Abstufungen von Armut zu differenzieren erlaubt.

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