Netzwerkorientierung in der Sozialen Arbeit - Theorie, Forschung, Praxis

Netzwerkorientierung in der Sozialen Arbeit - Theorie, Forschung, Praxis

 

 

 

von: Werner Schönig, Katharina Motzke, Rudolf Bieker

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170307346

Sprache: Deutsch

186 Seiten, Download: 4815 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Netzwerkorientierung in der Sozialen Arbeit - Theorie, Forschung, Praxis



 

Zu diesem Buch


„Früher dachte man, die Erde sei eine Scheibe, dann eine Kugel, heute scheint sie zum Netz(-werk) zu werden.“ (Tomlinson 1999, in: Keupp 2009, S. 43)

Die Netzwerkgesellschaft …


Menschen haben sich schon immer vernetzt, Beziehungen wurden bewusst geknüpft und genutzt, Austausch wurde auf Gegenseitigkeit betrieben und bei fehlender Reziprozität schon immer die Vernetzung abgebrochen. Stichworte hierzu sind der kulturelle Austausch schon in der Vorzeit, Städtebünde in der Antike und im Mittelalter, gelehrte Korrespondenzen und auch die kluge Heiratspolitik zur Festigung von Familiennetzwerken. Das Netzwerken ist vermutlich eine anthropologische Konstante des ‚homo socialis‘, eine zutiefst und spezifisch menschliche Variante des Problemlösens.

Für die europäische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts war das Räsonieren ein Hauptgegenstand, und hierfür wurden schon früh Netzwerke und Netzwerktreffen organisiert. Diese Netzwerktreffen sind als Salons bekannt geworden, wurden bis ins 19. Jahrhundert als solche betrieben und sind bis heute – wenn auch modifiziert und unter anderem Begriff – vielfach zu finden. Im Salon erreichten Aufklärung und Vernetzung eine neue Qualität. Hier wurden wesentliche Aspekte der Netzwerkarbeit praktiziert: regelmäßiges Treffen, themenorientierter Diskurs, Glauben an die Kraft des besseren Argumentes, Pflicht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, interdisziplinärer Austausch von Fachleuten, formale Hierarchielosigkeit, mehr oder weniger unscharfe Außengrenzen bei wechselnder Mitgliedschaft, Einführung von Nachwuchskräften, Konkurrenzsituation zu anderen Netzwerken und schließlich eine Person in der Funktion der Netzwerkkoordination. Es ist durchaus bemerkenswert, dass dieser Modernisierungsschub, zumindest in Form der Salons, von Beginn an wesentlich von Frauen getragen wurde, deren Salons Berühmtheit erlangten (Geier 2009, S. 38ff.; Safranski 2004, S. 147ff.).

Dazu passt, dass diese Salons gerade auch der Einführung junger Menschen in die intellektuelle Gemeinschaft der Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer und Beamten dienten. Das dortige Netzwerken war somit nicht nur dem Diskurs gewidmet, sondern ermöglichte auch ein freies Nachdenken über die eigenen Interessen und Fähigkeiten. Ganze Generationen von Intellektuellen sind in diesen Salon-Netzwerken nachhaltig geprägt worden. Ihr Ich hat dort – um mit Buber zu sprechen – ein denkbar vielfältiges, kreatives und komplexes Du gefunden, an das es sich anlehnen und von dem es sich abgrenzen konnte. Netzwerke haben mithin auch die Funktion einer Peergroup im individuellen Bildungsprozess (Bisky 2011, S. 117ff.; Buber 1983).

Netzwerke sind daher Ausdruck der „Selbstorganisation der Aufklärung“ (Schneiders 1997, S. 19). Mit der Gründung und dem Betrieb von Netzwerken erfuhr die europäische Kulturgeschichte einen enormen Modernisierungsschub, der bis heue nachwirkt. Dabei liegt die Modernität des Netzwerks darin, dass es den Teilnehmern ermöglicht, individuelle Ziele auf Grundlage von Freiwilligkeit und bei Nutzung größtmöglicher Flexibilität zu verwirklichen. Schon hierdurch unterscheidet sich das Netzwerk von verwandten Phänomenen, wie System, Gemeinschaft und Familie.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht nun die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft auf dem Prüfstand, wobei Innovation zu dem gesellschaftlichen Mega-Thema schlechthin avanciert. Auch in den Sozialwissenschaften findet die breite gesellschaftliche Thematisierung technischer und organisatorischer Innovationen ihren Niederschlag, die sich u. a. in der „These einer reflexiven Verflüssigung etablierter Grenzziehungen“ (Krücken/Meier 2003, S. 71) spiegelt. Damit wird ein grundlegender Strukturwandel der modernen Gesellschaft vermutet und – soziologisch betrachtet – die Gegenwartsdiagnose der ‚Innovationsgesellschaft‘ gezeichnet. In diesem Kontext findet sich auch Castells (2001) groß angelegte Analyse der gesellschaftlichen Transformationen der Weltgesellschaft wieder, in der der Autor neue, hochflexible Netzwerkkonfigurationen des Wissens und des Kapitals herausgearbeitet und kritisch hinterfragt hat. Er rückt darin die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Ihm zufolge lässt sich die Gesellschaft durch umfassende Auflösungserscheinungen von Grenzziehungen vormals institutionell eindeutig voneinander getrennter Sektoren charakterisieren und wird dadurch zur ‚Netzwerkgesellschaft‘: Im Sinne Castells ist der Netzwerkbegriff eng mit der Vorstellung eines Informationszeitalters und einer Wissensgesellschaft verknüpft. Netzwerke und Kommunikationstechnologie sind für ihn dessen zentrale Machtstruktur, durch die sich der von Castells durchaus kritisch gesehene informationelle Kapitalismus vollzieht.

Aufgrund dessen sind Netzwerke bereits seit geraumer Zeit allgegenwärtig in verschiedensten gesellschaftlichen Diskursen. Obwohl die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung durchaus kritisch mit ihrem Gegenstand umgeht und funktionale Leistungsgrenzen und Probleme der Zurechnung von Verantwortung sowie Koordinationsprobleme in Netzwerken thematisiert, orientiert sich die Diskussion letztlich aber immer an den Problemlösungsversprechen, die mit Netzwerkstrukturen tatsächlich – oder eben nur vermeintlich (Stichwort: Mythos) – einhergehen (Krücken/Meier 2003, S. 72). Denn die Annahme, dass Netzwerke in Innovationskontexten die überlegene und rationale Strukturform darstellen, ist derzeit in hohem Maße institutionalisiert: Die Politik ist das zentrale Umweltsegment, das Netzwerke insbesondere durch Programme auf ganz unterschiedlichen Ebenen fördert. Folglich bilden verschiedenste Akteure entsprechende Formalstrukturen aus, um als legitime Akteure von Seiten der Politik anerkannt zu werden. Dies sichert die Finanzierung, ohne die der Großteil dieser Akteure nicht überlebensfähig wäre (vgl. Krücken/Meier 2003, S. 87, dort mit Blick auf Wissens- und Technologietransferorganisationen).

… und ihre Soziale Arbeit


Auch das Sozialwesen (und mit ihr die Soziale Arbeit als Profession und Disziplin) kommt nicht ohne Netzwerke aus – und will dies auch gar nicht. Denn auch aus fachlicher Sicht sprechen veränderte strukturelle Rahmenbedingungen des Sozialstaates und der Gesellschaft per se schon für eine netzwerktheoretische Fundierung Sozialer Arbeit. Ursächlich hierfür sind

•  die komplexer werdenden Probleme der Adressaten sozialer Hilfe,

•  die sozialräumliche Diversifizierung der sozialen Bedarfe,

•  die enorme Ausdifferenzierung spezialisierter sozialer Hilfen sowie

•  die gestiegene Komplexität der Angebotsstrukturen sozialer Dienstleistungen (Kruse 2005, S. 37).

Vor diesem Hintergrund versucht die Politik Netzwerkorientierung einseitig zu instrumentalisieren. Mit Blick auf dieses Risiko sei darauf hingewiesen, dass seit Ende der 1980er Jahre Politik und Verwaltung im Kontext des Neuen Steuerungsmodells verstärkt auf einen Mix unterschiedlicher Steuerungsinstrumente setzen und hierbei Ambivalenzen erzeugen: Einerseits soll der Sozial- und Gesundheitssektor mittels wettbewerbszentrierter Modernisierungsinstrumente effizienter gestaltet und korporatistische Steuerungen des Systems aufgelöst werden. Andererseits sollen hier mittels Vernetzung vorhandene Angebotsstrukturen optimiert, d. h. stärker verzahnt und aufeinander abgestimmt werden, um Synergieeffekte durch die Koordination von Ressourcen zu produzieren und damit Prozesse der Leistungserstellung effizienter zu machen (Dahme/Wohlfahrt 2000, S. 9ff.). Dabei verweisen Konzepte wie ‚New Governance‘, ‚New Public Management‘ und ‚Aktivierender Sozialstaat‘ darauf, politische Steuerungsprozesse nicht mehr streng hierarchisch aufzufassen, sondern die Interdependenzen der Akteure zu betonen und sich damit von der traditionellen Staatsfixierung zu distanzieren (Schubert 2008, S. 36). Mit Blick auf die kommunale Daseinsvorsorge lassen sich als neue Leitbilder einer solchen Organisationsentwicklung beispielsweise die Neuorganisation des Planungs- und Handlungssystems im Sozialraum, das Qualitätsmanagement oder die Vernetzung der Infrastrukturen verschiedener Fachbereiche nennen (Schubert 2008, S. 12).

Problematisch dabei ist nicht nur die grundsätzliche Ambivalenz, da auch in Vernetzungskonzepten Kooperation und Konkurrenz gleichzeitig gedacht und umgesetzt werden sollen. Darüber hinaus ist die praktische Frage offen, wie die politisch so propagierte und inzwischen großflächig verordnete Modernisierungsstrategie ‚Vernetzung‘ von der Sozialen Arbeit umgesetzt wird oder vielmehr in ihr umgesetzt werden kann. Hier legen praktische Erfahrungen den Verdacht nahe, dass es statt zu einer...

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