Armut in Deutschland - Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?

Armut in Deutschland - Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?

 

 

 

von: Georg Cremer

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406699238

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 3814 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Mehr zum Inhalt

Armut in Deutschland - Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?



2.

Was bedeutet Armut in Deutschland?


Der Vergleich mit der Dritten Welt führt in die Irre


Was bedeutet Armut in Deutschland? Ist es überhaupt sinnvoll, von Armut zu sprechen angesichts wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, die Welten entfernt liegen von dem Leben in Hunger und Elend, dem ein Teil der Weltbevölkerung weiterhin ausgesetzt ist? Gemessen am Armutsbegriff der Vereinten Nationen gibt es keine Armut in Deutschland. In der Terminologie der Vereinten Nationen sowie der Weltbank, welche die wirtschaftliche Lage von Haushalten in nahezu allen Entwicklungsländern erforschen ließ, lebt in extremer Armut, wer sein Leben mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag fristen muss. Dieser Wert ist abgeleitet aus den nationalen Armutsschwellen der ärmsten Entwicklungsländer.[1] Wer unter diesem Niveau lebt, gilt auch in den ärmsten Ländern der Erde als arm. Arm zu sein bedeutet dort, unter Bedingungen zu leben, in denen die physische Existenz bedroht ist. Da in politischen Debatten immer wieder der Eindruck vermittelt wird, die Armut nehme weltweit zu, sei hier darauf hingewiesen: Die so gemessene Armut ist seit 1990 deutlich zurückgegangen. Der Anteil der Bevölkerung in extremer Armut in den Entwicklungsländern ist von 1990 bis 2015 von 47 % auf 14 % gesunken.[2] Es gibt also weltweit Fortschritte, wenn auch gemessen an einer bescheidenen Zielmarke. Die boomende wirtschaftliche Entwicklung in China und Indien hat dazu beigetragen, die extreme Armut dort zurückzudrängen. Aber auch heute leben mehr als 800 Millionen Menschen in extremer Armut. Abgekoppelt von jeder Besserung der Lebensverhältnisse sind vor allem die Menschen, die in Ländern mit Bürgerkrieg und massiver politischer Gewalt leben.[3]

In der deutschen Armutsdebatte gibt es immer wieder Versuche, unter Verweis auf extreme Armut in Entwicklungsländern die Kategorie «Armut» für Lebenslagen in prosperierenden Industrieländern grundsätzlich zurückzuweisen. Das hieße aber, Armut ohne jeglichen Bezug zum Wohlstandsniveau einer Gesellschaft definieren zu wollen. Oberhalb dessen, was zum unmittelbaren Erhalt der physischen Existenz auf unterstem Niveau erforderlich ist, lässt sich das, was als Minimum für den Lebensunterhalt angesehen wird, nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der jeweiligen Gesellschaft definieren.

Das betonte bereits der Gründungsvater der modernen Volkswirtschaftslehre, der schottische Moralphilosoph Adam Smith, in seinem Hauptwerk «Der Wohlstand der Nationen». Das Werk erschien erstmals 1776, zur Zeit der frühen Industrialisierung in England, die von materieller Entbehrung geprägt war. Es wäre damals weit naheliegender gewesen als heute, Armut als Mangel allein an existenznotwendigen Gütern zu fassen. «Unter lebenswichtigen Gütern», so Smith, «verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben notwendig. Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn eine solche Armut würde als schimpflich gelten … Ebenso gehören heute in England Lederschuhe aus Lebensgewohnheit unbedingt zur notwendigen Ausstattung. Selbst die ärmste Person, ob Mann oder Frau, würde sich aus Selbstachtung scheuen, sich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen.»[4] Armut ist somit bereits Smith zufolge nicht ohne Bezug zu den «Gewohnheiten des Landes» zu erfassen, in dem der arme Mensch lebt. Um nicht als arm zu gelten, muss eine Person über die Güter verfügen können, die in dieser Gesellschaft erforderlich sind, um Beschämung zu vermeiden und die Selbstachtung zu wahren.

Etwas mehr als hundert Jahre nach Smith unternahm Alfred Marshall, einer der führenden Ökonomen seiner Zeit und der akademische Lehrer von John M. Keynes, den Versuch, eine für seine Zeit gültige Armutsgrenze zu bestimmen. In seinem für die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre höchst einflussreichen Werk «Principles of Economics» beschreibt er «den notwendige(n) Existenzbedarf eines gewöhnlichen Landarbeiters oder ungelernten städtischen Taglöhners und seiner Familie» im damaligen England. Er besteht «aus einer guten Wohnung mit mehreren Zimmern, aus warmer Bekleidung mit etwas Wechsel in Unterkleidern, frischem Wasser, reichlicher Getreidenahrung, mäßig viel Milch, Fleisch, ein wenig Tee etc. und etwas Bildung und Erholung; schließlich ist erforderlich, daß die Arbeit seiner Frau genügend Zeit lässt, um ihr die ordentliche Erfüllung ihrer Pflichten als Mutter und Gattin zu ermöglichen».[5] Marshall sucht hier ein Existenzminimum zu beschreiben, bei dessen Unterschreitung die Leistungsfähigkeit von Arbeitern in derselben Weise leidet «wie die eines Pferdes, das nicht sorgfältig gepflegt wird, oder einer Dampfmaschine, welche ungenügend gespeist wird». Aber er bezieht sich eindeutig auf das Wohlfahrtsniveau, das am Ende des 19. Jahrhunderts bereits erreicht war. Tee war zu Zeiten von Adam Smith noch ein Konsumgut für gehobene Kreise. Auch erfasst Marshall mit «etwas Bildung und Erholung» bereits Bedürfnisse, die nicht der physischen Existenzsicherung dienen, sondern, in heutiger Begrifflichkeit, auf gesellschaftliche Teilhabe zielen.

Wenn aber bereits in der Frühzeit der Industrialisierung und im ausgehenden 19. Jahrhundert die Armutsgrenze Teilhabe berücksichtigte, wäre es reichlich absurd, in unserer heutigen Gesellschaft, die einen ungleich höheren Wohlstand erreicht hat, Armut ausschließlich als Unterschreitung eines wie auch immer definierten physischen Existenzminimums zu fassen. Entsprechend hat der Europäische Rat 1985 Armut in Bezug zu den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen definiert: «Verarmte Personen [sind] Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.»[6]

Diese Definition entspricht nicht zwingend der heutigen statistischen Konvention relativer Armut. Gemäß dieser wird jeder als arm (oder als im Armutsrisiko lebend) erfasst, der über weniger als 60 % des mittleren Einkommens verfügt. Eine Folge dieser Konvention ist, dass, solange die relative Verteilung der Einkommen unverändert bleibt, sich auch der Anteil der Armen nicht verändert – unabhängig vom Wohlstand einer Gesellschaft. Denn dann bleibt der Anteil der Bevölkerung konstant, dessen Einkommen unter der mit dem Wohlstand steigenden Armutsgrenze liegt. Damit löst sich der Armutsbegriff von den gängigen Vorstellungen, die mit einem Leben in Armut verbunden sind. Die meisten Menschen dürften es für absurd halten, auf der Grundlage eines rigiden relativen Armutskonzepts zu behaupten, die Armut in Deutschland heute sei genauso hoch oder gar höher als in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg, als viele Menschen Hunger litten und in Notquartieren wohnten. Ein hoher Anteil der Bürger litt in diesen Jahren Mangel am Nötigsten,[7] darunter sicherlich auch Menschen, deren Einkommen oberhalb der 60 %-Grenze lag. Nach einem rigiden Verständnis von relativer Armut wären diese Menschen jedoch damals nicht arm gewesen, obwohl sie ihre Grundbedürfnisse nicht decken konnten.

Der indisch-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen hat darauf hingewiesen, dass unsere Vorstellung von Armut im Kern darauf angewiesen ist, sich auf ein absolutes Niveau zu beziehen. Armut könne nicht allein relativ bestimmt werden, wenn Armut und Ungleichheit nicht in eins gesetzt werden sollen. Laut Sen definiert eine rigide relative Sicht Armut in einer Weise, dass diese in Marktökonomien, die durch ein gewisses Maß an Ungleichheit geprägt sind, auch bei wachsendem Wohlstand...

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