Interkulturelle Psychologie - Verstehen und Handeln in internationalen Kontexten

Interkulturelle Psychologie - Verstehen und Handeln in internationalen Kontexten

 

 

 

von: Alexander Thomas

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783840926600

Sprache: Deutsch

310 Seiten, Download: 3239 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Interkulturelle Psychologie - Verstehen und Handeln in internationalen Kontexten



3 Entwicklung des Selbstbildes, des Fremdbildes und des vermuteten Fremdbildes (S. 59-60)

Eine zentrale Fähigkeit des Menschen, die schon von früher Kindheit an erworben wird, besteht darin, sich immer wieder sehr schnell ein klares, möglichst realistisches und stimmiges Bild von seiner Umwelt zu verschaffen. Der Handelnde selbst, seine Mitmenschen und seine belebte und unbelebte Umwelt sind ständig in Änderung und Wandlung begriffen. Viele dieser Veränderungen vollziehen sich nur relativ langsam, z. B. Haarfarbe, Längenwachstum, und oft unbemerkt, z. B. Veränderungen der inneren Organe; andere verändern sich sehr schnell, wie z. B. Mimik und Stimmlage. In der Regel bietet sich jedem Menschen zu jeder Zeit eine solche Fülle von Informationen, dass er darin hilflos jede Orientierung verlieren müsste. Aber selbst in Situationen, in denen uns alles unbekannt ist, z. B. das Betreten der Lobby eines Hotels, in dem wir noch nie waren, und das durch Klingeln Herbeirufen des Rezeptionisten, den wir noch nie im Leben gesehen haben, irritiert uns die Informationsfülle in keiner Weise. Wir sind Herr der Lage, und uns wird nach wenigen Minuten ein Gästezimmer zur Übernachtung gezeigt. Dieses Ritual des Eincheckens im Hotel funktioniert sogar weltweit meist problemlos und verläuft fast immer in gleicher Weise ab. Möglich wird dieses sehr effektive Handeln dadurch, dass wir aufgrund eigener Erfahrungen oder vom Hörensagen ein Hotel-Eincheck-Skript/Schema verinnerlicht und soweit abstrahiert haben, dass es, falls nötig, sofort aktiviert werden kann. Es lässt uns deshalb handlungsfähig werden, weil wir in der Lage sind, eine Fülle von Informationen zu registrieren, aber gleichzeitig sehr schnell Wichtiges von weniger Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden und uns nur noch auf die Informationen konzentrieren können, die uns zur Erreichung des Handlungsziels bedeutsam erscheinen. Im Zusammenhang mit dem Prozess der interpersonalen Begegnung zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen spielt eine Fülle sozialpsychologischer Vorgänge eine bedeutsame Rolle, die mit den Begriffen soziale Wahrnehmung, Eindrucksbildung, soziale Orientierung, soziale Attraktion und Identität firmieren und die für die Entwicklung des Selbstbildes, des Fremdbildes und des vermuteten Fremdbildes sowie der Interdependenzen zwischen diesen Bildern für das soziale Handeln wichtig sind. Diese Vorgänge werden in den folgenden Abschnitten erläutert.

Begriffsklärung: Selbstbild, Fremdbild, vermutetes Fremdbild • Das Selbstbild (Selbstkonzept) enthält all diejenigen Kognitionen und Emotionen, die das Individuum sich selbst zuschreibt.
• Das Fremdbild (Fremdkonzept) enthält alle Kognition und Emotionen, die das Individuum fremden Personen, also solchen, die nicht zum vertrauten sozialen Umfeld gehören, zuschreibt.
• Das vermutete Fremdbild enthält alle Kognition und Emotionen, von denen das Individuum annimmt, dass sie das Bild bestimmen, dass sich sein Gegenüber von ihm macht.

3.1 Soziale Wahrnehmung

Interkulturelles Handeln im hier diskutierten Sinne ist immer soziales Handeln, und dies unter spezifischen Kontextbedingungen: Handeln in kulturellen Überschneidungssituationen. Wenn auch, wie bereits bemerkt, im Handlungsvollzug Vieles gleichsam automatisch abläuft, also nicht mehr bewusstseinspflichtig ist, und die einzelnen Ablaufprozesse in der Regel keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr bedürfen, kommt es doch häufig zu Irritationen mit der Folge, dass ein Vorgang, der zunächst normal verläuft, sich zu einer kritischen Interaktionssituation entwickelt. Das allein ist Grund genug, einmal genauer zu untersuchen, wie die strukturellen, besonders aber auch die prozessualen Bedingungen der sozialen Wahrnehmung und der sie begleitenden Kognition beschaffen sind. Dabei wird nicht so sehr der Wahrnehmungsvorgang selbst betrachtet, sondern die Beziehungen zwischen der Kognition und den erfahrungsrelevanten und handlungsrelevanten Aspekten aufseiten des Handelnden und der von ihm wahrgenommenen Situation.

Wahrnehmungsvorgänge vollziehen sich nicht zufällig oder beliebig, sondern beginnen mit einer Erwartungshypothese, die der Beobachter aufgrund seiner im Gedächtnis abgespeicherten Erfahrungen aktiviert. Die Erwartungshypothese entscheidet darüber, was aus der Vielzahl an verfügbaren Informationen aufgenommen wird. Es können mehrere Hypothesen aktiviert werden, die dann in eine Rangordnung gebracht werden. Die Erwartungshypothesen können zudem unterschiedliche Stärken aufweisen. Je stärker eine Hypothese ist, desto weniger Informationen bedarf es zu ihrer Bestätigung. Von entscheidender Bedeutung für den Wahrnehmungsvorgang ist also die Hypothesenstärke. Starke Hypothesen werden eher aktiviert, ihre Dominanz ist besonders groß, sie sind resistent gegen Änderungsversuche und es bedarf vieler Reizinformationen, um sie zu widerlegen. Auch die Motivationslage wird im Sinne Hypothesen-unterstützender Tendenzen beeinflusst. Sind keine Hypothesen-unterstützenden Informationen aus der Situation ableitbar, können auch soziale Bindungen, z. B. an eine Gruppe, Hypothesen-unterstützend wirken. Jede interpersonale Begegnung im Rahmen einer kulturellen Überschneidungssituation wird aus der Sicht beider Partner bestimmt von Erwartungshypothesen, die sie in die Wahrnehmungssituation mit einbringen, und damit werden alternative Hypothesen auf eine Alternative reduziert, was dann zur Unterstützung oder Widerlegung der Wahrnehmungshypothese führt.

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