Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern - Grundlagen - Prinzipien - Prozess

Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern - Grundlagen - Prinzipien - Prozess

 

 

 

von: Franz Stimmer, Harald Ansen

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170306790

Sprache: Deutsch

402 Seiten, Download: 3955 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern - Grundlagen - Prinzipien - Prozess



3         GESELLSCHAFT UND BERATUNG


3.1       Moderne Gesellschaft


Wie kommt es, dass Menschen in die Lage geraten, sich in manchen Situationen nicht mehr selbst ausreichend helfen zu können? Neben individuellen körperlichen, kognitiven, psychischen und sozialen Problemen sind es – so die Annahme – die Struktur und die Dynamik moderner Industriegesellschaften, die durch ihr hohes Verunsicherungspotenzial quasi naturgegeben Beratungsbedürfnisse einzelner Menschen und Gruppen erzeugen, einen hohen Grad eines kollektiven Beratungsbedarfs bewirken und als Merkmal sozialstaatlicher Aufgaben Beratungspflichten bedingen.

Als beschreibende Kennzeichen moderner Gesellschaften werden häufig genannt: »Komplexität«, »Individualismus«, »Desintegration«, »Technologisierung«, »Bürokratisierung«, »Globalisierung« u. a. Diese Merkmale charakterisieren zunächst nur prägende Eigenschaften moderner europäischer Gesellschaften, wie sie sich seit der Renaissance in einem langen Prozess herausgebildet haben. Sie sind aber auch Anlass, der Frage nachzugehen, welche Konsequenzen sich daraus – wechselwirkend zu diesem Prozess der Modernisierung – für die Gesellschaftsmitglieder ergeben und inwiefern sich aus dieser Entwicklung das Potenzial für Probleme ableiten lässt, für Konflikte, die dann wiederum subjektiv ein Bedürfnis nach Unterstützung und eben auch nach Beratung auslösen. Und es ist auch danach zu fragen, wer die Gewinner und wer die Verlierer dieser Entwicklung sind. Dies und der allgemeine Blick auf die Gesellschaft und ihre Organisationen haben Konsequenzen für das praktische Beratungshandeln und für die Entwicklung einer Beratungswissenschaft jenseits allgemeiner Proklamationen.

Grundsätzlich gilt es, bei der Diskussion von Kennzeichen moderner Gesellschaften Einschränkungen zu beachten. Selbst wenn nur über europäische Gesellschaften nachgedacht wird, sind grundlegende Entwicklungen sicherlich vergleichbar, die Unterschiede jedoch teilweise auch gravierend, z. B. in der Sozialpolitik, im Sozialrecht, im Gesundheitswesen, in der Zuwanderungspolitik. Das heißt dann auch, dass neben dem Allgemeinen das Spezifische zu beachten ist, für das Thema dieses Buches also die »typisch« moderne Gesellschaft und die spezifisch deutsche Variante zugleich. Es geht im Folgenden darum, ausgewählte gesellschaftliche Grundlagen dahingehend zu befragen, inwiefern sie Hinweise geben für ein steigendes subjektiv empfundenes Beratungsbedürfnis und damit auch für einen gesellschaftlich erhöhten Beratungsbedarf.

Zwischen »Gesellschaft und Individuum« besteht natürlich kein unilinearer Bezug in Form direkter deterministischer Verknüpfungen. Es geht vielmehr darum, Anhaltspunkte zu finden, wie gesellschaftliche Prozesse menschliches Denken, Fühlen und Handeln in der Weise beeinflussen, dass sich ein zunehmendes Bedürfnis nach Beratung daraus ableiten lässt. »Gesellschaft« wirkt nicht unreflektiert auf ihre Mitglieder ein (zu Wechselwirkungen vgl. Kap. 5.6.1). Historische Gesellschaftsprozesse beeinflussen die Persönlichkeitsbildung, die Lebensstile und die Lebensführung über die jeweiligen Lebenswelten mit ihren je unterschiedlichen Lebenschancen und Lebensrisiken (Lebenslagen) (Kap. 5.6.2); dies verbunden mit vielfältigen Lebensformen, in die Menschen eingebunden sind und in deren Rahmen sie ihre Identität bilden und in (post-)modernen Zeiten immer wieder aufs Neue »erfinden« müssen.

Beim Thema »Individuum und Gesellschaft« sind im vorliegenden Themenzusammenhang zumindest zwei Stränge differenzierend zu beachten:

•  erstens, dass in ein und derselben Gesellschaft »vertikal« mehrere Generationen unterschiedlichen Geschlechts mit differenten historischen Wurzeln leben sowie verschiedene Alterskohorten (Jahrgänge oder Gruppen von Jahrgängen), die aufgrund der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Situation und der damit zusammenhängenden Sozialisationsprozesse spezifische Verhaltensstrukturen und Einstellungsmuster entwickelt haben;

•  zweitens zusätzlich, dass zugleich »horizontal« differenzierte Lebenswelten nebeneinander existieren, teilweise sich korrespondierend ergänzend, teilweise aber auch konträr zueinander stehend und die darüber hinaus jede für sich genommen auch noch mehr oder weniger stark ausgeprägt in einzelne Segmente (s. unten) unterschieden sind.

Es kann dann auch unschwer abgeleitet werden, dass gleichzeitig wohl mehrere »Modulpersönlichkeiten« simultan in Erscheinung treten; dies wie in den Simultandarstellungen der Bildenden Kunst, wo auf demselben Gemälde zeitlich oder auch räumlich nicht identische Ereignisse in den Blick geraten. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass es Menschen in einer scheinbar gleichen Gesellschaft, ja selbst in vordergründig homogen erscheinenden Lebenswelten gibt, die sich bezüglich ihrer Probleme und ihrer Beratungsbedürfnisse quantitativ wie qualitativ erheblich unterscheiden können: Wohnungslose, Suchtkranke, Psychiatriepatient_innen, Heimbewohner_innen, Führungskräfte, Slumbewohner_innen, Villenbesitzer_innen, Arme, Jugendliche, Alte, Lehrer_innen, Schüler_innen, Frauen, Männer etc. Noch bunter wird das Bild, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit ihren jeweils verschiedenartigen Sozialisationserfahrungen und Wertvorstellungen sowie Menschen aus zunächst fremden Kulturen, die jetzt in zweiter oder dritter Generation im Migrationsland leben, sich in derselben Umwelt befinden.

Neben den unterschiedlichen Generationen, den lebensweltlichen Differenzierungen und den kulturellen Besonderheiten wäre – was hier nicht zu leisten ist – zusätzlich das Spezifische von Frauen und Männern, verbunden mit den genannten Kriterien, zu untersuchen. Bezüglich der Beratung liegen dazu themenzentriert spezielle Ansätze vor (vgl. z. B. McLeod 2004, S. 175 ff., 217 ff.; Nestmann u. a. 2007, Band 1 und 2013, Band 3).

Zum Thema »Gesellschaft und Beratung« können in diesem Buch nur ausgewählt bedeutsame Kennzeichen moderner Gesellschaften diskutiert werden, und zwar unter der Annahme, dass die Identitätsbildung und die Aufrechterhaltung des Selbstbildes und des Selbstwerterlebens sowie die Bewältigung kognitiver, emotionaler und sozialer Verunsicherungen in modernen Industriegesellschaften ein schwieriges Unternehmen geworden sind. Im Folgenden werden daher einige folgenreiche wesentliche Kennzeichen, die die gesellschaftlich-kulturelle Basis moderner Gesellschaften bilden, beschreibend diskutiert. Diese Merkmale beeinflussen sich wechselseitig, sodass ihre Wirkung eigentlich erst spürbar wird, wenn sie als Teile eines historisch-dynamischen Ganzen gesehen werden. Idealtypisch können bezüglich ihrer Bedeutsamkeit als gesellschaftlich-kulturelle Grundlage – wie im Folgenden behandelt – für die Entwicklung eines zunehmenden Beratungsbedürfnisses gebündelt werden:

•  Komplexität,

•  Individualisierung und Pluralisierung,

•  Technologisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung,

•  soziale Mobilität,

•  lebensweltliche Segmentierung,

•  Bevölkerungsentwicklung sowie

•  Armut und soziale Ausgrenzung.

3.1.1        Komplexität


Globale Interdependenzen erweitern den »lebenswichtigen Beziehungskreis« (Behrendt 1962, S. 93) in der Weise, dass »[…] nirgends etwas Wesentliches geschehen kann, das nicht alle angeht« (Jaspers 1949, S. 178). Der Begriff »Exonetzwerke« verdeutlicht diesen Prozess (Kap. 5.9.2). Relativ harmlos sind dabei Erscheinungen der »cultural mobility« (Sorokin 1959), nämlich die Ausbreitung unterschiedlicher – auch egalisierender – künstlerischer, religiöser, wissenschaftlicher, therapeutischer sowie auch alltäglicher Moden über kulturelle und gesellschaftliche Grenzen hinweg. Ein Paradebeispiel dafür ist die Übernahme vieler Beratungsansätze aus den USA in Deutschland. Soziale, politische und ökologische Krisen irgendwo auf der Welt verstärken durch ihr manchmal auch unerwartetes Auftreten sowie durch die nicht mehr durchschaubaren Verflechtungen das Erleben von Unsicherheit, Abhängigkeit und Angst. Subjektiv wahrgenommen wird dies nicht selten als individuelles Schicksal, verbunden mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und der Befürchtung, sowieso nichts ändern zu...

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