Behinderung und Soziale Arbeit - Beruflicher Wandel - Arbeitsfelder - Kompetenzen

Behinderung und Soziale Arbeit - Beruflicher Wandel - Arbeitsfelder - Kompetenzen

 

 

 

von: Hiltrud Loeken, Matthias Windisch

Kohlhammer Verlag, 2013

ISBN: 9783170276284

Sprache: Deutsch

146 Seiten, Download: 7999 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Behinderung und Soziale Arbeit - Beruflicher Wandel - Arbeitsfelder - Kompetenzen



2 Behinderung – ein Perspektivenwechsel


In diesem Kapitel werden verschiedene Perspektiven von Behinderung skizziert, und es wird in den aktuellen Diskurs zu Behinderung eingeführt.

Einstieg

Ein einheitliches Verständnis zum Begriff der Behinderung existiert bis heute nicht. Vielmehr variieren zum einen die Erklärungsansätze je nach disziplinärer Blickrichtung. Zum anderen unterliegen Modelle und Definitionen von Behinderung historischen Veränderungen. Auch sind sie abhängig von unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionierungen, politischen Grundüberzeugungen und ethischen Positionen. Lange Zeit bestimmte ein einseitig defizitorientiertes, medizinisch orientiertes und individuumbezogenes Verständnis von Behinderung die Diskussion. Diese Sichtweise wurde zunehmend ergänzt oder ersetzt u. a. durch:

  • das Verständnis von Behinderung als Resultat eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses, in welchem Behinderung in Abweichung von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen definiert wird,
  • Behinderung als Folge gesellschaftlich vorenthaltener Zugangsmöglichkeiten,
  • systemisch-ökologische Sichtweisen von Behinderung, die besonders Fragen der Passung zwischen individuellen Möglichkeiten und den Bedingungen der Umwelt reflektieren sowie
  • systemtheoretische und konstruktivistische Konzeptualisierungen

(Cloerkes 2007; Dederich 2009; Metzler/Wacker 2005; Moser/Sasse 2008).

Heftige Kritik am lange vorherrschenden, medizinischen Modell von Behinderung, am klinischen Blick auf Behinderung und an den als paternalistisch empfundenen Fachdiskussionen gab es sowohl von Vertretern der politischen Behindertenbewegung als auch aus dem Kontext der Disability-Studies (Ackermann/Dederich 2011). Dem medizinischen Modell wurde zunächst ein Soziales Modell von Behinderung gegenübergestellt, welches betont, dass Menschen »nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigung behindert werden, sondern durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet« (Waldschmidt 2005, 18). Erweitert wurde dieses Modell anschließend um eine kulturwissenschaftliche Perspektive. Diese geht von der Annahme aus, dass »Behinderung weniger ein zu bewältigendes Problem, sondern vielmehr eine spezifische Form der Problematisierung körperlicher Differenz darstellt(e)« (ebd., 24). Es geht dabei um Fragen nach der gesellschaftlichen Konstruktion und kulturellen Bedeutung körperlicher, mentaler oder psychischer Differenzen.

Diese kulturwissenschaftliche Perspektive nimmt auch die Rolle der so genannten interventionsorientierten Disziplinen (Rehabilitationswissenschaften, Pädagogik, Soziale Arbeit etc.) kritisch in den Blick (Waldschmidt 2006, 90; Dederich 2010).

Bereits Anfang der 1970er-Jahre hatte Jantzen (1992) Behinderung als sozialen Tatbestand wie folgt beschrieben: »Behinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu jeweiligen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, dass ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an« (Jantzen 1992, 18). Behinderung wird nicht nur in theoretischen Entwürfen, sondern vor allem im lebensweltlichen Diskurs und in sozialpolitisch und sozialrechtlich relevanten Regelungen in Abweichung von einer mehr oder weniger klar umschriebenen Normalität definiert. Als Gegengewicht dazu steht die Forderung nach Akzeptanz der Verschiedenheit als normales Phänomen menschlicher Vielfalt, die Anerkennung behinderter Menschen als selbstbestimmte Bürger und das Recht auf Gleichstellung im Verhältnis zu nicht behinderten Bürgern.

Behinderung aus soziologischer Sicht

Begriffsklärung

Aus (behinderten)soziologischer Perspektive wird von Kastl (2010, 108) mit Behinderung eine »nicht terminierbare, negativ bewertete, körpergebundene Abweichung von situativ, sachlich, sozial generalisierten Wahrnehmungs- und Verhaltensanforderungen« bezeichnet, »die das Ergebnis eines schädigenden (pathologischen) Prozesses bzw. schädigender Einwirkungen auf das Individuum und dessen/deren Interaktion mit sozialen und außersozialen Lebensbedingungen ist«. »Schädigende Einwirkungen und Lebensbedingungen können« – so Kastl (ebd.) weiter – »soziale wie außersoziale Sachverhalte sein. Soziologisch gesehen ist Behinderung in diesem Sinne eine relationale Wirklichkeit und zwar in Hinsicht auf die individuelle und soziale Wahrnehmung als Abweichung und deren Ausdeutung, die individuelle und soziale Bewertung der Abweichung« und anderes mehr.

In Auseinandersetzungen mit dem Behinderungsbegriff wird besonders auf das Risiko verwiesen, dass dieser sich »zu einem unabänderlichen und umfassenden Personenmerkmal« entwickelt, »sodass schließlich die ganze Person vom Stigma der Behinderung erfasst wird« und die negative Bewertung eines Merkmals sich somit auf die gesamte Person erstreckt (Moser/Sasse 2008, 35).

ICF – Die Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation

Nach langjähriger Kritik am medizinisch bestimmten und individuumbezogenen Verständnis von Behinderung hat die Weltgesundheitsorganisation 2001 ein neues Klassifikationssystem von Behinderung, die »Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health) vorgelegt (DIMDI 2005). Die ICF erhebt den Anspruch, ein bio-psycho-soziales Modell zu sein, das besonders auf die Wechselwirkungen zwischen Beeinträchtigungen auf der Ebene von Körperfunktionen und -strukturen und den Aktivitäten sowie der Teilhabe der betroffenen Menschen, die wiederum von individuellen und umweltbezogenen Kontextfaktoren beeinflusst werden, fokussiert (vgl. ► Abb. 1). »Behinderung ist [demnach – d. Verf.] gekennzeichnet als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen Individuen leben, andererseits« (DIMDI 2005, 22). Zusätzlich gibt es eine ICF-Version für Kinder und Jugendliche, die spezieller als die allgemeine Fassung auf deren Lebenswirklichkeiten eingeht (WHO 2011).

Abb. 1: Komponenten der ICF als ein bio-psycho-soziales Modell (DIMDI 2005, 23; BMFSFJ 2009, 175)

Behinderung wird mit der ICF als relationales und mehrdimensionales Geschehen aufgefasst, das immer dann entsteht, »wenn eine unzureichende Passung besteht zwischen den Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, den an sie gerichteten Erwartungen und den Umweltbedingungen« (Wacker u. a. 2005, 11). In der Konsequenz haben Hilfen für Menschen mit Behinderung die Aufgabe, die Passung zwischen persönlichen Voraussetzungen und Umweltbedingungen zu erhöhen, indem sie an beiden Ebenen ansetzen.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK) geht grundlegend davon aus, »dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern« (UN-BRK, Präambel, e).

Behinderung im Sozialrecht

Begriffsklärung

In der Definition des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX werden seit 2001 im § 2 Abs. 1 Menschen dann als behindert bezeichnet, »wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.«

Diese Definition des SGB IX ist zwar orientiert an der ICF, indem der Tatbestand einer Behinderung nicht gleichgesetzt wird mit der vorwiegend medizinisch feststellbaren Funktionsbeeinträchtigung; sie benennt aber umweltbedingte Teilhabehindernisse nicht explizit. Der § 1 des SGB IX benennt als Ziel der Leistungen für Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen, die »Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken«.

Die Definition von Behinderung nach dem SGB IX ist mit spezifischen Modifizierungen und Akzentsetzungen in einzelnen Leistungsgesetzen für alle weiteren Sozialgesetze bindend. Da die sozialrechtlichen Definitionen von Behinderung eine Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Hilfen und Nachteilsausgleichen darstellen, ist Behinderung in diesem Kontext vor allem eine Ressourcenkategorie. Ohne die entsprechende Klassifikation einer bestimmten Behinderung oder eines Grades der Behinderung (GdB) werden keine Leistungen...

Kategorien

Service

Info/Kontakt

  Info
Hier gelangen Sie wieder zum Online-Auftritt Ihrer Bibliothek