Ungerechtigkeit der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit

Ungerechtigkeit der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit

 

 

 

von: Eckart Liebau, Jörg Zirfas

Verlag Barbara Budrich , 2008

ISBN: 9783866491564

Sprache: Deutsch

221 Seiten, Download: 1695 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Ungerechtigkeit der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit



Die Bildung des Geschmacks (S. 45)

Über Distinktion und Kapital. Und über Gerechtigkeit

Eckart Liebau

1. Geschmack und Distinktion
„Die Veränderung des allgemeinen Geschmacks ist wichtiger als die der Meinungen, Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellektuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz gewiß gerade das nicht, wofür man sie noch so häufig ansieht, dessen Ursachen" (Nietzsche 1886/1982, S. 70).

Meinungen, Urteile, Diskurse, Rationalität – Aufklärung und rationale Kommunikation also als Paradigmen der gesellschaftlichen Praxis und der alltäglichen Lebensführung: Was Friedrich Nietzsche hier in diesem lapidaren ersten Satz des Paragraphen 39 des „Ersten Buchs" der „Fröhlichen Wissenschaft" verwirft, ist die Substanz der europäischen Aufklärungsidee.

Das autonome Individuum, das selbstverantwortliche, mit Gründen handelnde Subjekt, von dem Aufklärung und Idealismus sprachen: Träumerei, „intellektuelle Maskerade", lediglich Ausdruck veränderten Geschmacks – und zwar nicht des Geschmacks von irgendwem, sondern, da ist Nietzsche sehr präzise, des Geschmacks der Herrschenden. Er fährt nämlich fort:

„Wie verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, dass Einzelne, Mächtige, Einflußreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urteil ihres Geschmacks und Ekels aussprechen und tyrannisch durchsetzen – sie legen damit vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch mehrerer und zuletzt ein Bedürfnis aller wird" (ebd.).
Die persönliche, schamlos genutzte Macht, der Zwang, die Gewöhnung, das Bedürfnis: nicht die Sache selbst ist lächerlich oder absurd, sondern sie wird durch das Geschmacksurteil solcher, die die Macht zur tyrannischen Durchsetzung haben, für lächerlich oder absurd erklärt. Aus deren Definitionsmacht folgt der Zwang gegen die vielen (also unmittelbare äußere Gewalt), dann die Gewöhnung der Mehrheiten an die neuen Sitten (also allmähliches Umlernen) und schließlich ist das Ziel erreicht: aus dem äußeren ist innerer Zwang geworden, aus der Tyrannei der Einzelnen das „Bedürfnis aller".

Veränderungen im Massengeschmack folgen aus Veränderungen im Geschmack der Herrschenden, deren Bedürfnisse, deren Besonderheiten, Vor- lieben und Macken, deren Individualität prägen die Richtung, in die sich dann auch der Massengeschmack bewegen wird. Auch bei den Herrschenden ist es allerdings nicht etwa der Geist, sind es nicht etwa die Meinungen, die die Ursache der Geschmacksbildung darstellen:

„Dass diese einzelnen aber anders empfinden und ,schmecken‘, das hat gewöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirne, kurz in der Physis: sie haben aber den Mut, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urteile sind solche ,feinsten Töne‘ der Physis" (ebd.).
Die Physis, der Körper, die Sinne, die materielle Verfassung also der Herrschenden als Grundlage des abweichenden Geschmacksurteils, das auf ihr „Schmecken", auf körperlich-sinnliche Erfahrung, zurückgeht: Nietzsche ist ziemlich radikal in seinem biologisch fundierten Primat des Ästhetischen. Wenn man die Geschmackstheorie Nietzsches um ihre biologistischen Gehalte kürzt und lediglich soziologisch interpretiert, erweist sie sich als erstaunlich aktuell.

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