Rekonstruktive Sozialforschung

Rekonstruktive Sozialforschung

 

 

 

von: Ralf Bohnsack

Verlag Barbara Budrich , 2008

ISBN: 9783825282424

Sprache: Deutsch

295 Seiten, Download: 2744 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Rekonstruktive Sozialforschung



6. Narratives Interview (S. 91)
Gerade der Zugang zu unterschiedlichen Ebenen der Erfahrungsbildung im Alltag – der, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, für die objektive Hermeneutik von geringerem Interesse ist – steht im Zentrum der Methodologie des narrativen Interviews, wie sie von Fritz Schütze entwickelt worden ist.

Der handlungstheoretische und methodologische Bezugsrahmen des narrativen Interviews ist durch den Einfluss der Phänomenologischen Soziologie (Alfred Schütz) geprägt sowie durch die Chicagoer Schule – und zwar durch deren sozialphilosophische Abteilung, für die in erster Linie der Name George Herbert Mead steht (und die in einer spezifischen und verkürzten Auslegung später unter dem von Blumer (1969) geprägten Namen „Symbolischer Interaktionismus" bekannt geworden ist). Die Verbindung dieser beiden Traditionen lässt sich auch als „phänomenologisch- interaktionistische" Soziologie bezeichnen (vgl. dazu Matthes 1983), zu der auch die Ethnomethodologie zu zählen ist, durch die die Überlegungen von Schütze ebenfalls beeinflusst sind.

Der forschungspraktische Bezugsrahmen des narrativen Interviews ist vor allem durch die soziologische Abteilung der Chicagoer Schule mit ihrer spezifischen Forschungspraxis geprägt (u.a. die Arbeiten von Thomas/Zaniecki, Park, Burgess, Shaw, und nach dem zweiten Weltkrieg v.a. Hughes, Strauss, Becker, Goffman u. Glaser/ Strauss, siehe dazu auch Kap 8.2).

Fritz Schütze kann also an einige der Arbeiten aus der Forschungspraxis der soziologischen Abteilung der Chicagoer Schule anknüpfen, wenn er den Zugang zu den unterschiedlichen Ebenen der für Alltagswirklichkeit und Alltagshandeln konstitutiven Erfahrung auf dem Wege der Erzählung sucht: „Erzählungen (Geschichten) sind im Alltag ein allgemein vertrautes und gängiges Mittel, um jemandem etwas, das uns selbst betrifft oder das wir erlebt haben, mitzuteilen. Erzählungen sind Ausdruck selbst erlebter Erfahrungen, d.h. wir greifen immer dann auf sie als Mitteilungsmedium zurück, wenn es darum geht, Eigenerlebtes einem anderen nahe zu bringen. Insofern kann also von Erzählen als ‚elementarer Institution menschlicher Kommunikation‘, als alltäglich eingespielter Kommunikationsform gesprochen werden" (Schütze 1987a, S. 77).

Im Zuge der Entwicklung der Methodologie des narrativen Interviews ist somit von Fritz Schütze auf der einen Seite eine sprachsoziologisch fundierte Theorie des Erzählens ausgearbeitet worden. Auf der anderen Seite bietet die Methodologie des narrativen Interviews aber auch eine Theorie dessen, was in der Erzählung inhaltlich mitgeteilt wird. Da das narrative Interview in seiner späteren Entwicklung vor allem im Zusammenhang der Biographieanalyse, also der Analyse biographisch relevanter Alltagserfahrung, Anwendung gefunden hat, hat Fritz Schütze eine zu einem Teil empirisch fundierte (und zugleich die weitere empirische Forschung wiederum fundierende) Biographietheorie entwickelt, in der Wert darauf gelegt wurde, die aufeinander bezogenen Schichten biographisch relevanter Erfahrung zu unterscheiden – so wie diese in der Erzählung entfaltet werden.

In beiden Bereichen – der Erzähltheorie wie auch der Biographietheorie – handelt es sich um metatheoretische oder formale theoretische Begrifflichkeiten, d.h., die im Bereich der Erzähltheorie entwickelten Kategorien geben Auskunft über die Struktur, über den formalen Aufbau von Erzählungen, unabhängig von deren empirisch sehr unterschiedlichen Inhalten. Und die im Bereich der Biographietheorie entwickelten Kategorien vermitteln uns einen Zugang zum formalen Aufbau biographisch relevanter Alltagserfahrung, zu den „Prozeßstrukturen des Lebensablaufs" (Schütze 1981) und der daraus resultierenden Identitätsbildung bzw. Habitusformation des Erzählers, unabhängig davon, um wessen Biographie es sich handelt.

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