Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung

Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung

 

 

 

von: Barbara Senckel

C.H.Beck, 2006

ISBN: 9783406558597

Sprache: Deutsch

328 Seiten, Download: 1326 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung



Erstes Kapitel: Psychische Störungen (S. 19)

Psychische Störungen Unter dem Begriff der Entwicklungsförderung verbirgt sich ein für den Umgang mit geistig behinderten Menschen schier unerschöpfliches Thema. Wird eine Behinderung diagnostiziert, so setzt alsbald – falls der Betroffene gut versorgt wird – die «Frühförderung» ein. Sie erfaßt alle Gebiete: die Motorik, die Wahrnehmung, das Spiel, die Denkfähigkeit, die Sprache, das Sozialverhalten.

Gefördert wird auf die unterschiedlichste Art und Weise, und jede Methode beansprucht, einen Beitrag zur gesamten Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Daß dabei jeweils die Beziehung eine Rolle spielt, daß eine gute Beziehung sogar grundlegend ist für die Bereitschaft, sich auf den Prozeß der Förderung überhaupt einzulassen, daß sie somit eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg bildet, bestreitet heute niemand mehr.

In den letzten beiden Jahrzehnten wurde darüber hinaus zunehmend deutlich, daß reine Förderkonzepte nicht hinreichen, um geistig behinderte Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen. Denn ein verändertes Menschenbild in der Behindertenpädagogik schärfte die Wahrnehmung dafür, daß zahlreiche Persönlichkeitseinschränkungen, die sich neben dem Mangel an Fähigkeiten auch als behandlungsbedürftige Verhaltensstörung äußern, als manifeste emotionale Störungen einzustufen sind.

Das bedeutet, daß die auffälligen und oft als «typisch» geltenden Schwierigkeiten weder einseitig als unmittelbare Folge der Behinderung zu werten sind, noch lediglich eine Konsequenz einschränkender, menschenunwürdiger Lebensbedingungen darstellen. Erstere Meinung herrschte in der traditionellen Behindertenpädagogik ebenso wie in der klassischen Psychiatrie vor.

Ausgehend von der Hypothese, geistige Behinderung sei durch einen hirnorganischen Defekt bedingt, wurden die Verhaltensstörungen lediglich als Ergebnis fehlerhaft arbeitender Hirnfunktionen gedeutet, somit als biologisch bedingt, für den gesunden Außenstehenden nicht nachvollziehbar und vom Pädagogen unbeeinflußbar.

Eine andere lerntheoretisch ausgerichtete und milieuorientierte Sichtweise vertraten viele moderne Pädagogen der siebziger Jahre, die sich im Zuge der Psychiatriereform für die Enthospitalisierung geistig behinderter Menschen und die Normalisierung ihrer Lebensbedingungen einsetzten.

Spricht das biologisch-defektorientierte Menschenbild den geistig Behinderten jegliche Fähigkeit ab, auf verletzende Erlebnisse und widrige Lebensumstände mit psychischen Störungen zu antworten, so betrachtet dieses Modell ihn als zwar lernfähigen, aber völlig außengesteuerten Organismus, der auf positive Lebensbedingungen «automatisch» positiv reagiert.

Erst die Tatsache, daß mit der Annäherung der Lebensverhältnisse an das «gesellschaftlich Normale» zwar einige, aber beileibe nicht alle schwerwiegenden Verhaltensstörungen, «von selbst» verschwanden, öffnete den Blick dafür, daß geistig behinderte Menschen traumatische Erfahrungen konflikthaft verarbeiten und seelisch erkranken können.

Nun erkannte man, daß geistig Behinderte sich nach denselben psychischen Gesetzen entwickeln, daß sie empfinden, emotional reagieren und kognitive Strukturen ausbilden wie normal begabte Menschen auch. Mit diesem Ansatz ließen sich die Mehrzahl ihrer fremdartig anmutenden, oftmals unverständlich scheinenden Verhaltensmuster als zwar chronifizierte, aber sinnvolle Antwort auf verletzende Ereignisse, unbefriedigende Beziehungsangebote, unangemessene Lebensbedingungen mit ständigen Über- oder Unterforderungen, kurz als psychische Störung begreifen.

Obgleich sich manches Problemverhalten tatsächlich als unmittelbare, hirnorganisch oder genetisch bedingte Folge der Behinderung herausstellte, ließ sich aufgrund dieses Befundes die klassisch psychiatrische Auffassung nicht mehr halten, daß geistig behinderte Menschen psychisch zu undifferenziert, d. h. «zu dumm», sind für eine «eigentliche» psychische Störung.

Vielmehr erweist sich die geistige Behinderung unter dieser Perspektive als ein «Risikofaktor», der die Wahrscheinlichkeit seelischer Schwierigkeiten erhöht, weil die kognitiven Bewältigungsmöglichkeiten (z. B. die Einsicht in Zusammenhänge) vermindert sind.

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