Utopia

Utopia

 

 

 

von: Thomas Morus

Anaconda Verlag, 2014

ISBN: 9783730690666

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 563 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Utopia



Erstes Buch


Heinrich VIII., der unüberwindliche König von England, ein Fürst von seltenem und überlegenem Geist, hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Zwist von gewisser Bedeutung mit dem durchlauchtigen Carl, dem Prinzen von Kastilien. Ich wurde damals mit der Mission, diese Angelegenheiten zu ordnen und möglichst ins Reine zu bringen, als Gesandter nach Flandern geschickt.

Man hatte mir den unvergleichlichen Cuthbert Tunstall beigegeben, welchem der König unter dem Beifall aller die Siegel des Erzbistums von Canterbury anvertraut hatte. Ich werde hier nichts zu seinem Lob sagen, nicht etwa aus Furcht, dass man meine Freundschaft der Schmeichelei beschuldigen möchte, sondern weil seine Kenntnisse und seine Tüchtigkeit über mein Lob erhaben sind; sein Ruf ist so glänzend, dass jemand, der seine Verdienste rühmen wollte, einem Sprichwort gemäß mit der Laterne gegen die Sonne leuchten würde.

In Brügge, der für die Konferenz bestimmten Stadt, trafen wir die Gesandten des Prinzen Carl, alle sehr ausgezeichnete Männer. Der Gouverneur von Brügge war der Chef und das Haupt dieser Gesandtschaft, während Georg von Thamasia, der Prevot von Mont-Cassel, den Mund und die Seele derselben bildete. Dieser Mann, der seine Beredsamkeit weniger der Kunst als der Natur verdankt, galt als einer der größten Rechtsgelehrten in Staatsangelegenheiten; seine persönlichen Fähigkeiten verbunden mit einer langjährigen Geschäftspraxis machten ihn zu einem äußerst gewandten Diplomaten.

Der Kongress hatte bereits zwei Sitzungen gehalten, konnte sich aber über mehrere Punkte nicht einigen. Die Gesandten von Spanien nahmen daraufhin Abschied von uns, um sich nach Brüssel zu begeben und dort den Willen des Prinzen zu erfahren. Ich meinerseits nutzte diese Muße dadurch, dass ich nach Antwerpen reiste.

Während meines Aufenthalts in dieser Stadt empfing ich häufig Gesellschaft; keine von allen Bekanntschaften aber war mir angenehmer als diejenige Peter Gilles’, eines sehr biederen Antwerpeners. Dieser junge Mann, der unter seinen Mitbürgern eine ehrenvolle Stellung genießt, verdient seiner Kenntnisse und seiner Moralität halber eine der erhabensten, denn seine Bildung steht der Vortrefflichkeit seines Charakters in nichts nach. Seine Seele ist allen offen; für seine Freunde aber bewahrt er so viel Wohlwollen, Liebe, Treue und Hingebung, dass man ihn, ohne sich an der Wahrheit zu versündigen, das vollkommenste Muster der Freundschaft nennen könnte. Bescheiden und ohne Falsch, einfach und klug weiß er mit Geist zu reden und seine Scherze werden nie beleidigend. Genug, die Vertraulichkeit, die sich bald zwischen uns entspann, hatte etwas so Angenehmes und Bezauberndes, dass sie in mir den Schmerz der Erinnerung an mein Vaterland, mein Haus, meine Gattin und meine Kinder milderte und die Besorgnisse, welche eine Abwesenheit von mehr als vier Monaten erwecken musste, sogar zu beschwichtigen vermochte.

Eines Tages besuchte ich die Notre-Dame. Diese Kirche wird nicht allein von den Einwohnern sehr verehrt, sondern bildet auch eines unserer schönsten Meisterwerke der Architektur. Nach beendetem Gottesdienst wollte ich soeben in mein Hotel zurückkehren, als ich plötzlich vor Peter Gilles stand, der mit einem schon ältlichen Fremden plauderte. Der sonnengebräunte Teint des Unbekannten, sein langer Bart, sein Rock, der nachlässig bis zur Hälfte zurückfiel, seine Miene und seine Haltung ließen mich in ihm einen Schiffspatron vermuten.

Kaum hatte Peter mich bemerkt, als er mir entgegenkam, mich grüßte und seinen Begleiter, der eben eine Erwiderung auf den Lippen hatte, ein wenig entfernte.

– Diesen Herrn hier, sagte er, stand ich soeben im Begriff, zu Ihnen zu führen.

– Schon um Ihretwillen, mein Freund, würde er mir herzlich willkommen gewesen sein …

– Und gewiss auch, wenn Sie ihn kennten, um seiner selbst willen. Von niemandem würden Sie über Menschen und unbekannte Länder so genaue und interessante Details erfahren können als eben von ihm. Und ich weiß ja, dass dergleichen Neuigkeiten für Sie einen ungemeinen Reiz haben.

– Ich habe also nicht sehr fehlgeschossen; ich hielt ihn sogleich für einen Schiffspatron.

– Sie irren sehr!, sagte Peter: Er ist freilich zur See gewesen, aber nicht als Palinur. Er spielte vielmehr die Rolle eines Ulysses oder gar eines Pluto. Hören Sie seine Geschichte: Raphael Hythlodée (der erste dieser Namen ist derjenige seiner Familie) versteht sehr gut das Lateinische und hat das Griechische ganz in seiner Gewalt. Das Studium der Philosophie, der er sich ausschließlich gewidmet hat, veranlasste ihn, sich die Sprache von Athen vorzugsweise vor derjenigen Roms zu eigen zu machen. Daher wird er Ihnen über die geringfügigsten Gegenstände nur Stellen aus dem Cicero oder Seneca zitieren. Sein Vaterland ist Portugal. Noch sehr jung trat er sein elterliches Erbteil seinen Brüdern ab, und da er der Lust, die Welt zu durchmessen, nicht widerstehen konnte, schloss er sich der Person und dem Glücksstern des Amerigo Vespucci an. Während der drei letzten von den vier Reisen, deren Beschreibung man gegenwärtig überall lesen kann, hat er diesen großen Seefahrer keinen Augenblick verlassen. Aber er kehrte nicht mit ihm nach Europa zurück. Seinen dringenden Bitten nachgebend erlaubte Amerigo ihm, einer von jenen »Vierundzwanzig« zu sein, die im Innern Neukastiliens zurückblieben. Seinem Wunsch gemäß wurde er also an diesem Gestade gelassen; denn den Tod in fremdem Lande fürchtet unser Held nicht; er macht sich wenig aus der Ehre, in einem gehörigen Sarge zu verwesen, und oft genug hört man von ihm den Sinnspruch: »Dem Leichnam ohne Begräbnis dient der Himmel statt des Leichentuchs; den Weg zu Gott findet man überall.« Dieser abenteuerliche Charakter wäre ihm vielleicht verderblich geworben, hätte die Vorsehung ihn nicht beschützt. Wie dem auch sei, nach der Abfahrt des Vespucci durchwanderte er mit fünf Kastilianern eine Menge Länder, gelangte wie durch ein Wunder per Schiff nach Taprobana und von dort nach Kalkutta, wo er portugiesische Schiffe fand, deren eines ihn gegen alles Erwarten in sein Vaterland zurückbrachte.

Als Peter mit seiner Erzählung zu Ende war, dankte ich ihm für seine Gefälligkeit und seinen verbindlichen Eifer, mich mit einem so unterhaltsamen und außergewöhnlichen Menschen bekannt zu machen; darauf näherte ich mich Raphael und führte ihn, nach den bei der ersten Anknüpfung einer Bekanntschaft üblichen Komplimenten, mit Peter Gilles zu meiner Wohnung. Dort setzten wir uns in den Garten auf eine Rasenbank und die Konversation begann.

Zuerst erzählte mir Raphael, wie er und seine Gefährten, nach der Abfahrt des Vespucci, durch ihre Freundlichkeit und mancherlei gute Dienste sich die Freundschaft der Eingeborenen gewonnen und wie sie mit diesen friedlich und im besten Einverständnis gelebt hätten. Er erzählte sogar von einem Fürsten, dessen Land und Name mir jedoch entfallen sind, der sie auf das Bereitwilligste in seine Protektion genommen hätte. Dieser Freigiebige lieferte ihnen Barken, Fahrzeuge und alles Übrige, was sie zur Fortsetzung ihrer Reise benötigten. Ein treuer Führer bekam den Auftrag, sie zu begleiten und mit den ausgezeichneten Empfehlungen anderen Fürsten vorzustellen.

Nach einem viele Tage dauernden Marsch fanden sie Ortschaften, wohlverwaltete Städte, zahlreiche Völkerschaften, mächtige Staaten.

Unter dem Äquator, fügte Raphael hinzu, und innerhalb der beiderseitigen Wendekreise sahen sie unermessliche Einöden, die ein Feuerhimmel unaufhörlich versengte. Alles füllte sie hier mit Schrecken und Entsetzen. Das unbebaute Land hatte keine anderen Bewohner als wilde Raubtiere, hässliches Gewürm oder Menschen, die noch schrecklicher waren als jene Tiere. Je weiter man sich vom Äquator entfernte, einen umso sanfteren Charakter nahm die Natur allmählich an; die Hitze war weniger brennend, die Erde schmückte sich mit einem lachenden Grün, die Tiere waren nicht mehr so wild. Doch weiterhin traf man auf Völkerschaften, Städte und Flecken, wo ein lebhafter Land- und Seehandel getrieben wurde nicht allein in das Innere und mit den Grenzländern, sondern auch mit sehr entfernten Nationen.

Diese Entdeckungen entflammten den Eifer Raphaels und seiner Gefährten. Was aber mehr als dies alles ihre Reiselust vergrößerte, war der Umstand, dass sie ohne Schwierigkeiten Zutritt zu dem ersten segelfertigen Schiff erhielten, mochte die Bestimmung desselben auch sein, welche sie wollte.

Die ersten Fahrzeuge, die sie bemerkten, waren flach, die Segel derselben aus Weiden oder Schilfblättern geflochten und einige aus Fellen hergestellt. Später sahen sie Schiffe mit spitzen Schnäbeln und Segeln von Hanf; diejenigen aber, die sie zuletzt fanden, waren in allem den unsrigen ähnlich und wurden von geschickten Matrosen geführt, die den Himmel und das Meer kannten, obgleich sie vom Kompass noch keine Idee hatten.

Diese guten...

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