John Rawls - Eine Theorie der Gerechtigkeit
von: Otfried Höffe
De Gruyter Akademie Forschung, 2006
ISBN: 9783050050225
Sprache: Deutsch
337 Seiten, Download: 1357 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Rainer Forst
Die Pflicht zur Gerechtigkeit (Kapitel 6) (S. 187-188)
Von allen Kapiteln in John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zeigt das sechste auf eine besondere Weise, daß auch ein „Klassiker" zeitgebunden ist, durch die Art der Thematisierung aktueller Fragen jedoch über seinen Entstehungskontext hinausweist. So nimmt Rawls’ Diskussion der Fragen nach dem Grund, dem Ausmaß und den Grenzen der Verpflichtung der Bürger gegenüber den Institutionen ihres Gemeinwesens einerseits ein seit Platons Kriton zentrales Problem der politischen Philosophie auf und versucht, dieses mit dem Begriff einer „natürlichen Pflicht" zur Gerechtigkeit zu lösen. Andererseits wird in den Abschnitten zum zivilen Ungehorsam und der Weigerung aus Gewissensgründen deutlich, wie sehr sie von den gesellschaftlichen Kontroversen in den Vereinigten Staaten während der sechziger Jahre im Zuge der Bürgerrechtsbewegung zur Emanzipation der schwarzen Bevölkerung und des Widerstands gegen den Vietnamkrieg geprägt sind.
Im Gesamtzusammenhang der Theorie ist dieses Kapitel von besonderer Bedeutung, da Rawls an dieser Stelle die Frage diskutiert, welche „Grundsätze für Individuen" zu den Grundsätzen für Institutionen hinzukommen müssen, um eine „vollständige Theorie des Rechten" zu ergeben. Denn ohne die Befolgung bestimmter Handlungsprinzipien seitens der Bürger kann eine in ihren Institutionen „wohlgeordnete" Gesellschaft nicht bestehen. Diese Argumentation verweist auf ein komplexes Verhältnis von Moral, Demokratie und Recht innerhalb der Theorie der Gerechtigkeit, und sie enthüllt, wie sich zeigen wird, bestimmte Eigenarten und Probleme der Theorie insgesamt. Zudem ist dies der Ort, an dem Rawls konkrete Phänomene sozialer Ungerechtigkeit ausdrücklich zum Thema macht und die „nichtideale Theorie" der „unvollständigen Konformität" exemplarisch erörtert. Damit erhält die Konzeption der „wohlgeordneten Gesellschaft" schärfere Konturen und eine spezifische politische Relevanz als Grundlage der Beurteilung gesellschaftlicher Praxis.
Zum Verständnis dieses Kapitels empfiehlt es sich, in drei Schritten vorzugehen. Zunächst sind Rawls’ Argumente für die Grundsätze der natürlichen Pflicht und der Fairneß als Antwort auf die Frage nach der moralischen Basis politischer Verpflichtung zu untersuchen (9.1). Dem folgt eine Diskussion der Bedeutung dieser Grundsätze im Kontext einer Theorie der Demokratie (9.2), und schließlich ist eine Analyse der Definitionen und der Rechtfertigungen von zivilem Ungehorsam und der Weigerung aus Gewissensgründen notwendig, um das Ganze der Verpflichtungstheorie von ihren Grenzen her zu verstehen (9.3).