Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung - Theorie, Methoden, Empirie
von: Ruth Becker, Beate Kortendiek
VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2010
ISBN: 9783531920412
Sprache: Deutsch
965 Seiten, Download: 4929 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Teil III Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse (S. 408-409)
A Lebensphasen und -lagen
Reinhard Winter
Jungen: Reduzierte Problemperspektive und unterschlagene Potenziale
Unter „Jungen“ verstehen wir alle Menschen männlichen Geschlechts, welche sich in den Lebensphasen zwischen einer geschlechterbezogenen Definition bis zum Erreichen des Erwachsenenstatus befinden. Allgemeiner gesprochen bezeichnet der Begriff „Jungen“ alle Kinder und Jugendlichen männlichen Geschlechts. Neben einer universellen (menschlich) und einer geschlechtlichen (männlich) beinhaltet der Begriff eine lebensphasenbezogene Dimension (Kind, Jugendlicher). Explizite Jungenforschung wäre dem entsprechend sowohl in der Jugendforschung wie auch in der Geschlechterforschung anzusiedeln.
Der Geschlechterbezug auf das Männliche wird mit körperlichen, habituellen oder verhaltensbezogenen Attributen versehen bzw. assoziiert (im Spektrum von sex, sex category und gender; vgl. West/Zimmermann 1987). Dabei ist das jeweilige Verständnis von „Geschlecht“ bedeutsam. Wird das männliche Geschlecht – wie oft in der Geschlechterforschung – primär über Hierarchie und Dominanz definiert (z.B. Connell 1999: 91, Hollstein 1991: 200), können Jungen nicht als das gesehen werden, was sie mit den entsprechenden Potenzialen, Optionen und Verhaltensbandbreiten sind, sondern werden in ihrer Geschlechtlichkeit und durch sie reduziert (vgl. Metz-Göckel 1993, Gravenhorst 1988 a und b).
Solche sozialen Zuschreibungen und Etikettierungen können mit dafür verantwortlich gemacht werden, dass traditionelle Vorstellungen stabil bleiben und in der Forschung wie im Alltag permanent rekonstruiert werden. Das Nachzeichnen von Strukturen des Männlichen, die lediglich aus auffälligen oder kritischen Spitzen abgeleitet werden (vgl. z.B. Böhnisch/Winter 1993), erweist sich als fatal, weil die ständige Suche danach als selbsterfüllende Vorhersage und letztlich rekonstruierend wirkt.
Ebenfalls kritisch ist es, wenn der Begriff „Jungen“ nicht unabhängig, sondern relational, also in Bezug auf ein Gegenmodell oder etwas Gegensätzliches definiert wird: Auch nach langjährigen Genderdebatten werden Jungen in Praxis, Forschung und Statistiken unterschwellig zur Abgrenzung von Mädchen herangezogen (und umgekehrt). Immer dann, wenn Mädchen und Jungen undifferenziert verglichen werden, droht sich diese relationale Definition einzuschleichen: Präferieren etwa 37% der Mädchen, aber nur 20% der Jungen ihre Mütter als sexualitätsbezogene Informantinnen (Bode 1999: 77) und wird diese Information darüber hinaus noch grafisch illustriert, sticht zuerst die Differenz ins Auge. Der selbstverständlich signifikante Unterschied setzt sich fest. Damit werden „Jungen“ und „Mädchen“ als different oder sogar als Negation (mit) konstruiert: Junge = „anders“ als Mädchen bzw. Nicht-Mädchen und umgekehrt – obwohl empirische Befunde diese schlichte Polarisierung durchgängig widerlegen.