Indianer weinen nicht. Über die Unterdrückung der Tränen in unserer Kultur

Indianer weinen nicht. Über die Unterdrückung der Tränen in unserer Kultur

 

 

 

von: Ulrich Kropiunigg

Kösel-Verlag, 2003

ISBN: 9783466306138

Sprache: Deutsch

241 Seiten, Download: 1272 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Indianer weinen nicht. Über die Unterdrückung der Tränen in unserer Kultur



Auch Helden weinen (S. 35-36)

Dass Helden weinen, widerspricht unserem »natürlichen« Empfinden. Dass Götter weinen, scheint uns vollends absurd. Geschieht es dennoch, haben wir das Bedürfnis, ihnen menschliche Gründe zu unterstellen. Die in Stein gehauenen Götter-Tränen in Tiahuanaco sind so ein Fall. Nichts vermittelt den Eindruck einer verstummten Botschaft, die umso mehr unsere Fantasie herausfordert, besser als die zwei Götterstatuen nahe dem Titicacasee: »Mitten im Ruinenfeld: zwei Götter aus Stein, die weinen. Ihre Tränen sind fein gemeißelte, kleine Kunstwerke. Und die rinnen aus so weit in die Ferne gerückten Augen, als würden sie schon den Untergang ihrer Kultur am Horizont erkennen.«24Weit davon entfernt zu stimmen, liefert diese Interpretation nur den Beweis der Sehnsucht, die Tränen zu deuten. Nehmen wir nur die beliebtere touristische Interpretation, dann weinen sie aus Trauer um den unabwendbaren Untergang ihres Reiches.

Eine Post-hoc-Prophetie, zu der nur wir Nachgeborenen mit allem Wissen um das Verschwinden dieser Vorinkakultur und die verbliebenen Ruinenfelder in der Lage sind. Somit erreicht die Interpretation eine plausible Übereinkunft mit der eigenen Erfahrung, dass Weinen eben Ausdruck von Ohnmacht und unkontrollierbaren Emotionen ist. (Ich erinnere hier an Jesu Tränen bei seinem Einzug in Jerusalem. Er knüpft sie an die düstere Prophezeiung eines schlimmen Schicksals für die Stadt, weshalb die, die jetzt lachen, später weinen würden.) Tränen erhellen sich nur in der Kommunikation über sie, die Steine müssten daher sprechen können, nur so würden wir den wahren Grund erfahren. Solange das nicht der Fall ist, werden wir um unsere eigenen Fantasien kreisen oder uns die etwas nüchterne Betrachtung der Archäologen aneignen, die in den Tränen eher Symbole eines Regengottes sehen.

Ob die Götter weinen, ist eigentlich eine Frage an unser Selbstverständnis; ob in früheren Zeiten mehr als heute geweint wurde, interessiert uns auch deshalb, weil wir so unser aktuelles, verwirrendes Weinverhalten besser einschätzen wollen. Aus heutiger Perspektive ist Weinen weitgehend verdrängt, und so nimmt es nicht wunder, dass man erstaunt und befriedigt feststellt, im Mittelalter wurde weit häufiger geweint, als wir es uns gedacht hätten. Diese Feststellung ist natürlich zweischneidig, führt uns aber zu interessanten Überlegungen. Denn wenn wir dem Mittelalter – zumindest aus überheblich abendländischer Sicht – den Status einer materiell und zivilisatorisch vergleichsweise unentwickelten Epoche zuschreiben, dann war vieles – so eben auch das Weinen – Ausdruck eines »falschen«, seinerseits unentwickelten Verhaltens, und wir sollten uns daher vor so einem Atavismus eher hüten.

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