Kognition - Grundwissen Philosophie

Kognition - Grundwissen Philosophie

 

 

 

von: Sven Walter

Reclam Verlag, 2014

ISBN: 9783159604305

Sprache: Deutsch

140 Seiten, Download: 319 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kognition - Grundwissen Philosophie



[11] 1. Die traditionelle Auffassung von »Kognition«


Der Ausdruck »Kognition« hat keine klare Definition. Viele der in diesem Buch nachgezeichneten Kontroversen entstehen überhaupt nur deshalb, weil wir uns uneins darüber sind, was Kognition ist, wo in der Welt kognitive Prozesse ablaufen, wie kognitive Systeme strukturiert sind und was sie zu dem macht, was sie sind. Dieses Kapitel stellt das vor, was man die »traditionelle Auffassung von Kognition« nennen könnte. Es handelt sich dabei weniger um eine präzise Explikation des Kognitionsbegriffs als um eine Reihe historisch gewachsener und teils vager Abgrenzungen, die in nahezu keiner Hinsicht unumstritten sind. Die diversen Präzisierungsversuche, Einwände und Gegenentwürfe, zu denen diese traditionelle Auffassung geführt hat, sind Gegenstand der folgenden Kapitel.

Etymologisch geht der Ausdruck »Kognition« auf die lateinischen und griechischen Ausdrücke für erkennen, wahrnehmen oder wissen, »cognoscere« und »gignoskein«, zurück. Vor diesem sprachgeschichtlichen Hintergrund wurde Kognition oft mit Emotion und Motivation kontrastiert. »Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten«, so zum Beispiel schon Immanuel Kant 1790 in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, »können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen«.1 Die Vermögenspsychologie des 19. Jahrhunderts griff diese Dreiteilung auf und identifizierte mit Erkenntnis, Gefühl und Wille schon jene geistigen Vermögen (facultates mentales), denen noch heute nachgesagt wird, zusammen die gesamte Bandbreite unseres geistigen Lebens abzudecken.2 Kognitiv wären demnach also jene mentalen Phänomene, die nicht das Fühlen und Wollen, [12] sondern das Denken betreffen. Diese strikte Kontrastierung von Kognition mit Emotion und Motivation ist allerdings umstritten (s. Kap. 11). Vor allem aber sagt sie nichts darüber aus, was mit »Kognition« in diesem engen Sinne von »Denken« eigentlich gemeint ist.

Im Zusammenhang mit der Rede von Kognition wird Denken oft mit Problemlösen gleichgesetzt. Wir sind ständig mit Problemen unterschiedlichster Art konfrontiert, auf die wir angemessen und effizient reagieren müssen: Wir sehen, dass unser Gegner das Schachspiel mit einem Zug von e2 nach e4 eröffnet; wir haben gelernt, zuerst die Zentralbauern ins Spiel zu bringen, und planen, mit dem Springer das Zentrum zu sichern; wir erinnern uns, dass wir mit der Französischen Verteidigung schlechte Erfahrungen gemacht haben; wir wägen alternative Eröffnungen ab und entscheiden uns für Sizilianisch – wir ziehen von c7 nach c5. Oder: Wir sehen, dass es kurz nach sieben Uhr ist; da wir wissen, dass um acht die Gäste kommen, und wir die Menüfolge gut durchdacht haben, schließen wir, dass wir jetzt die Nachspeise kalt stellen und dann das Risotto aufsetzen sollten, damit wir, während es simmert, das Fleisch anbraten können – wir greifen zur Schüssel mit der Nachspeise, gehen zum Kühlschrank und bringen auf dem Rückweg den Reis mit. Episoden wie diese beginnen damit, dass Licht unterschiedlicher Wellenlänge auf unsere Netzhaut (Retina) trifft und auch andere Sinnesorgane stimuliert werden: Wir haben einen Sinneseindruck. Sie enden damit, dass sich unser Körper auf bestimmte Weise bewegt: Wir handeln. Traditionell wurden kognitive Prozesse als dasjenige angesehen, was zwischen Sinneseindrücken und Handlungen geschieht – beginnend mit der (Re-)Konstruktion einer subjektiv erlebten Wahrnehmung aus den Daten der Sinnesorgane, über das Erinnern, Planen, Schlussfolgern, Abwägen, Entscheiden usw. bis hin zur Initiierung der unser Handeln konstituierenden Körperbewegungen. Susan Hurley hat diese klassische Vorstellung von Kognition einmal als Sandwichmodell bezeichnet: Das zentrale [13] kognitive System wird von den peripheren sensomotorischen Input- und Outputsystemen eingerahmt wie der Belag eines Sandwichs von den Weißbrotscheiben.3

Wenn Kognition zwischen sensorischen Eingangs- und motorischen Ausgangssignalen vermittelt, dann handelt es sich dabei um eine Art von Informationsverarbeitung. Unsere Wahrnehmung informiert uns beispielsweise darüber, dass Weiß von e2 nach e4 gezogen ist oder die Uhr kurz nach sieben zeigt, indem sie den relevanten Ausschnitt der Umwelt repräsentiert. Diese Information wird dann intern durch kognitive Prozesse so weiterverarbeitet, dass wir auf die Vorgänge in unserer Umwelt mit einem Output in Form einer (im Regelfall geeigneten) Handlung reagieren können. Die zentralen kognitiven Prozesse, die dazu beitragen, einen Input in einen angemessenen Output zu überführen, haben dabei ebenfalls Repräsentationen zum Gegenstand: Lernen ist immer Lernen von etwas, Erinnerungen sind immer Erinnerungen an etwas, Schlussfolgerungen immer Schlussfolgerungen von etwas auf etwas usw.

Im Zuge der Mitte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Computerwissenschaft lag es daher nahe, Kognition in Analogie zur Arbeitsweise von Computern zu verstehen. Computer sind ebenfalls informationsverarbeitende Systeme, die durch algorithmische Berechnungsprozesse (computations) über interne Repräsentationen einen Input in einen Output überführen. Kognition, so die traditionelle Auffassung, ist also die Verarbeitung von Information, und zwar mittels der regelgeleiteten Transformation interner mentaler Repräsentationen durch geeignete Berechnungsprozesse.

Die Vorstellung, dass intelligentes Verhalten ohne Rekurs auf kognitive Prozesse, die zwischen sensorischem Input und motorischem Output vermitteln, nicht zu erklären ist, hat im Zuge der – unter anderem durch Noam Chomskys Kritik an Burrhus Skinners Verbal Behavior angestoßenen4 – »kognitiven Wende« zu einer weiteren wichtigen Abgrenzung geführt: Das Adjektiv »kognitiv« zeigt manchmal den [14] Unterschied an zwischen einer behavioristischen Reiz-Reaktions-Psychologie einerseits, für die Geist bzw. Gehirn eine Blackbox darstellen, zu der wissenschaftlich weder etwas gesagt werden kann noch muss, und der kognitiven Psychologie andererseits, die zur Erklärung intelligenten Verhaltens ausdrücklich informationsverarbeitende Strukturen und Berechnungsprozesse im Gehirn postuliert, die zwischen Reiz und Reaktion vermitteln (s. Kap. 2).

Wenn Kognition Informationsverarbeitung im skizzierten Sinne ist, dann, so der Grundgedanke der Anfang der 1960er-Jahre aufkeimenden Künstliche-Intelligenz-Forschung (KI), sollte es gleichgültig sein, wie die entsprechenden Berechnungsprozesse und Repräsentationen materiell, zum Beispiel im Gehirn, realisiert sind. Prinzipiell zumindest sollten kognitive Leistungen des Menschen auch in künstlichen Systemen wie Computerprogrammen oder Robotern implementiert, das heißt verwirklicht werden können. Unter anderem deshalb spielte die Erforschung der neuronalen Mechanismen, die unseren kognitiven Leistungen zugrunde liegen, zunächst eine eher untergeordnete Rolle. Heute hingegen sind die Neurowissenschaften ein ebenso zentraler Bestandteil der Kognitionswissenschaft wie die kognitive Psychologie, die KI oder die Informatik und tragen entscheidend zu einem umfassenden Verständnis der entsprechenden informationsverarbeitenden Prozesse bei. David Marr betonte die Notwendigkeit des Zusammenspiels dieser Disziplinen Anfang der 1980er-Jahre im Rahmen seiner einflussreichen Unterscheidung von drei Analyseebenen, auf denen informationsverarbeitende Systeme beschrieben und ihre Funktions- und Arbeitsweise erklärt werden können.5

Auf der obersten Ebene, der Rechenebene (computational level), wird laut Marr eine computationale Beschreibung der Aufgabe erstellt, etwa der Addition zweier Zahlen, der Umwandlung der Retinastimulation in eine dreidimensionale Wahrnehmung oder des Navigierens auf See. Zu diesem Zweck wird der für die Lösung der Aufgabe erforderliche [15] Berechnungsprozess in Form einer mathematischen Funktion (das heißt einer eindeutigen Abbildung eines Inputs auf einen Output) beschrieben und gezeigt, dass sich mit dieser Funktion die Aufgabe lösen lässt. Auf der mittleren, der algorithmischen Ebene (level of representation and algorithm) wird das Repräsentationsformat von Input und Output spezifiziert und angegeben, welche Algorithmen das System verwendet, um die entsprechende Funktion zu berechnen. Während es also auf der obersten Ebene darum geht, was zu berechnen ist, geht es auf der mittleren Ebene darum, wie die Berechnung erfolgt. Auf der untersten Ebene, der Implementationsebene (level of hardware implementation), muss Marr zufolge gezeigt werden, wie die auf der mittleren Ebene beschriebenen Repräsentationen und Algorithmen in dem jeweils untersuchten System konkret implementiert sind und wie die postulierten Mechanismen (zum Beispiel mittels Neuronen oder Siliziumchips) die ihnen zugeschriebene Funktion erfüllen können.

Die traditionelle Auffassung von »Kognition« fand ihren paradigmatischen Ausdruck Mitte des 20. Jahrhunderts im sogenannten Computermodell des Geistes, das seinen Ursprung vornehmlich in der KI und der Philosophie hatte (s. Kap. 2). In der Folge wurde sie aufgrund von Entwicklungen in der KI und der Philosophie selbst, aber auch durch konvergierende Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der...

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