Therapie und Beratung von Migranten
von: Janine Radice von Wogau
Beltz PVU, 2004
ISBN: 9783621275422
Sprache: Deutsch
297 Seiten, Download: 5149 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
4 Systemische Theorie in interkultureller Beratung und Therapie (S. 45)
Janine Radice von Wogau
„Der gegenwärtige Augenblick enthält Vergangenheit und Zukunft. Das Geheimnis der Verwandlung liegt darin, wie wir mit eben diesem Augenblick umgehen."
(Thich Nhat Hanh, 2003, S. 260)
4.1 Eine Metatheorie
Die systemische Theorie ist eine Metatheorie, die es erlaubt, eine Vielzahl von Methoden und Techniken in die Beratung und therapeutische Arbeit zu integrieren. Sie hilft Therapeutinnen und Beratern, ihre Beobachtungen zu ordnen, in ein Bedeutungssystem einzubringen und in ihrer Praxis anzuwenden. Sie hat in der Psychotherapie wesentlich dazu beigetragen, dass Störungen und Konflikte nicht a priori individualisiert und pathologisiert, sondern mit dem sozialen Umfeld vernetzt werden.
Die Geschichte des Individuums wird in Verbindung mit seiner Familie und Community innerhalb eines kulturell-sozialpolitischen Kontextes gesehen. Zusammen mit demVerständnis der Migrationserfahrung als einer natürlichen Entwicklung ist das die Grundlage für eine produktive Therapie- und Beratungsarbeit mit Migranten und Migrantinnen. In diesem Kapitel werde ich einige zentrale Überlegungen über Migration, kulturelle Übergänge und Marginalisierung vorstellen, die Verbindung von systemischer Theorie, kultureller Prägung und Gender herstellen sowie eine kurze Skizzierung der systemischen Theorie umreißen.
Danach folgt eine Beschreibung von fünf therapeutischen Ansätzen, die ich in meiner klinischen Praxis mit Migrantenfamilien für sehr nützlich halte. Dazu gehören die strukturelle Familientherapie, die lösungsorientierte Kurzzeittherapie, die narrativen Ansätze, das reflektierende Team und die Therapie als emotionale Begegnung. Wenn wir genau hinschauen, wird uns bewusst, dass wir alle „Produkt" einer Vielzahl von Einflüssen sind.
Interkulturelle Kompetenz zu erwerben verlangt daher von uns, die dominanten Werte unseres eigenen kulturellen Hintergrundes zu erkennen und die Komplexität von Kultur und kultureller Identität zu erkunden.
Eine „interkulturelle Brille". Mein Hauptanliegen ist, der Leserin in diesem Kapitel die Möglichkeit zu geben, systemisch zu denken, durch eine „interkulturelle Brille" zu blicken und ein Bewusstsein für kulturelle Prägungen, auch der eigenen Perspektive zu entwickeln. Kulturell zu denken ist eine andere Art, Menschen und Familien zu betrachten.
4.2 Verständnis von Migration, kulturellen Übergängen und der Psychologie der Marginalisierung
Migration. Migration – verstanden als Gestaltung kultureller Übergänge – ist eine Erfahrung, in der sich ein Individuum oder eine Familie auf eine Reise durch viele Phasen und soziale Systeme begibt und sich eine neue Heimat schafft.
Kultur. Kultur soll definiert werden als das Verhalten, Sprache, die Normen, Werte, Bedeutungssysteme und Traditionen, die Menschen seit ihrer Geburt gelernt haben und die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Das menschliche Verhalten ist ohne kulturellen Bezug nicht denkbar, es ist wie Geräusche ohne Rhythmus und Melodie oder wie Farbe ohne Form. Kultur liegt zwischen den beiden Polen der Einmaligkeit der genetischen Ausstattung des Individuums und seiner persönlichen Biographie einerseits und der Vielfältigkeit der universell vergleichbaren Erfahrungen der Menschen andererseits.
4.2.1 Die Migrationsgeschichte
Tendenzen der Migration. Die Migrantinnen und Migranten haben ihre Herkunftsländer verlassen, um in einer Aufnahmegesellschaft zu leben. Traditionell handelt es sich bei ihnen um Flüchtlinge, Kriegsvertriebene, Asylsuchende, männliche Arbeitsmigranten und Heiratsmigrantinnen. Doch Migrationstendenzen ändern sich: Heute kommen mehr Frauen, auch Heiratsmigrantinnen dazu, sowie „Green–Card" Besitzer mit nachgefragten Berufen (s. Kap.17).